Die mit aufwendigen Miniaturen verzierten spätmittelalterlichen Stundenbücher waren schon an sich Luxusgüter, die sich nur wenige Menschen leisten konnten. Umso mehr jene schwarzen, mit Gold- oder Silbertinte beschriebenen Handschriften, bei denen nicht einfach schwarze Farbe oder Ruß auf das Pergament aufgetragen wurde, sondern schwarze Grundfarbe dadurch erreicht wurde, daß das ganze Pergament in einem Bad aus Kupfer-Eisen-Lösung sorgfältig gefärbt und anschließend aufgeweicht wurde.
Ein aufwendiger Vorgang mit Folgen: Die chemische Lösung läßt das Pergament mit der Zeit spröde und brüchig werden. So mußten von den – weltweit nur sechs erhaltenen – schwarzen Pergamenthandschriften bereits zwei auseinandergenommen und Blatt für Blatt zwischen Glasplatten montiert werden, um sie überhaupt erhalten zu können. Anders das Schwarze Stundenbuch, das um 1475 in Brügge entstanden ist. Es befindet sich noch heute in seinem ursprünglichen Zustand in der Pierpont Morgan Library in New York. Um es für die Nachwelt auch dauerhaft zu erhalten, hat der Faksimile Verlag in Luzern jetzt eine Faksimile-Edition dieser Kostbarkeit hergestellt.
Doch: Weshalb hat der Meister, in dessen Werkstatt das Stundenbuch entstanden ist, ausgerechnet Schwarz als Grundfarbe gewählt? Und: Weshalb entstand dieses außergewöhnliche Werk gerade in Brügge?
Schwarz war die Modefarbe des burgundischen Hofes – und so erstaunt auch nicht, daß nach dem Tod Karls des Kühnen 1477 kein einziges schwarzes Stundenbuch mehr entstanden ist. Ausgerechnet ein Mord soll Pate für die Wahl dieser aus heutiger Sicht außergewöhnlichen Modefarbe gestanden haben. 1419 wurde Herzog Johann Ohnefurcht bei Montereau auf einer Brücke über die Yonne von Begleitern des französischen Dauphin ermordet (siehe DAMALS 10/99). Sein Sohn, der 23jährige Philipp der Gute, schwor damals, er werde “in… tödlicher Hitzigkeit nach Rache für den Toten trachten”.
Wie übergroß sein Schmerz war, das zeigte Philipp, als er anläßlich der Trauerfeierlichkeiten den Königen von Frankreich und England mit einem gewaltige Gefolge entgegentrat: 2000 schwarze Standarten und Banner begleiteten seinen ebenfalls schwarz gestrichenen Reisewagen, der Herzog selbst trug ein samtenes schwarzes Trauergewand, auch sein Gefolge erschien in schwarzen Gewändern
Noch lange nach den Trauerfeierlichkeiten blieb Schwarz die bevorzugte Farbe Philipps und seines Hofstaats. Johan Huizings schreibt darüber: “Schwarz, vor allem schwarzer Samt, repräsentiert unstreitig den stolzen, düsteren Prunk, den die Zeit liebt, die hochmütige Absonderung von der fröhlichen Buntheit ringsum. Philipp der Gute geht seit dem Ende seiner Jugend immer in Schwarz und kleidet auch sein Gefolge und seine Pferde so.” Und er fügt hinzu: “Die Suggestion des Schwarzen, in das bei einem fürstlichen Todesfall nicht nur der Hofstaat, sondern auch Magistrate, Gilden und Volk sich kleideten, muß bei der bunten Farbigkeit des mittelalterlichen Stadtlebens durch den Kontrast noch viel stärker gewirkt haben.”
Auch der Entstehungsort des Schwarzen Stundenbuchs ist untrennbar mit den burgundischen Herzögen verbunden: Brügge gehörte zu den beliebtesten Aufenthaltsorten der Herzöge, die mit ihrem Hofstaat die Nachfrage nach Luxusgütern erheblich steigen ließen. Schon seit dem 11. Jahrhundert war die Stadt, damals noch direkt mit der Nordsee verbunden, überdies eine blühende Handelsmetropole. Die Einwohner von Brügge, schrieb der Humanist Thomas Platter, seien freundlicher, höflicher und kunstreicher als alle anderen. Und noch 1527, als das Reich der burgundischen Herzöge längst untergegangen war, pries Adrianus Barlandus, daß nirgendwo sonst die öffentlichen und privaten Gebäude derart prachtvoll seien, die Stadt scheine allein dem Lustwandeln zu dienen. Brügge, schreibt Paul Huvenne, war eine Stadt des Handels und des Friedens , die “Verwirklichung der idealen Stadt, die sich der humanistisch gebildete Mensch erträumte” (Huvenne).
Bereits um 1400 war Brügge ein blühendes Zentrum der Buchmalerei. Prächtig ausgeschmückte Bücher entstanden, für die Herzöge und deren Hofstaat, aber auch für die reichen Kaufleute und Kirchenmänner. Dieses Klima des Wohlstands zog zahlreiche Künstler in die flandrische Stadt und an den Hof der Herzöge – unter ihnen auch Willem Vrelant, in dessen Umkreis das Schwarze Stundenbuch entstanden ist.
Vrelant wurde um 1410 in der Nähe von Utrecht geboren, wo er auch seine Ausbildung erhalten hat. Eine Zeitlang arbeitete Vrelant in Frankreich, ehe er sich 1454 in Brügge niederließ. Er gründete eine florierende Werkstatt und erwarb das Bürgerrecht. Religiöse Werke scheinen bald fast ausnahmslos in Vrelants Werkstatt hergestellt worden zu sein. Die auswärtige Konkurrenz hielten sich die zünftisch organisierten Brügger Miniaturisten durch Einfuhrverbote vom Hals.
Vorlagen für seine Miniaturen fanden Vrelant und die anderen Miniaturisten in den Arbeiten der zahlreichen Künstler, die in diesen Jahrzehnten in Brügge tätig waren, allen voran Jan van Eyck und Hans Memling. Während van Eyck bereits 1441, also vor Vrelants Ankunft in Brügge, verstorben war, gilt Hans Memling, der seit 1465 in Brügge tätig war, als Nachbar und Freund Vrelants. Auf einem von Vrelant bei Memling bestellten Altarbild für die Eeckhout-Abtei in Brügge hat der Maler seinen Freund und dessen Ehefrau sogar als Stiferpaar porträtiert.
Vrelant und die anderen großen Miniaturisten der Stadt arbeiteten aber nicht nur für den burgundischen Hof und sein Umfeld. Ihre Handschriften waren in ganz Europa begehrt, von England bis Katalonien und natürlich auch an den deutschen Fürstenhöfen. Dabei profitierten sie natürlich ungemein von den weitläufigen Handelsbeziehungen der Stadt. Die kleineren Werkstätten setzten dagegen mehr auf standardisierte, fast manufakturmäßig hergestellte Bücher für die wohlhabenden Bürger der Stadt selbst. Mit dem Tod Karls des Kühnen 1477 endete zwar der Glanz des burgundischen Hofes in Brügge, doch Miniaturisten wie Willem Vrelant fanden nach wie vor ihre Abnehmer. Nach dem Tod Vrelants 1481 oder 1482 übernahmen dessen Frau Lisbetten und seine Tochter Betkin die Leitung des Unternehmens.
Ob Willem Vrelant wirklich der Schöpfer des Schwarzen Stundenbuchs war, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Für ihn sprechen die breiten, aufwendig gestalteten Bordüren und die Vorliebe für die Farbe Blau. Da Vrelant fast als “Hofminiaturist” gelten kann (was religiöse Werke anbelangt), spricht ebenfalls für seine Urheberschaft – vorausgesetzt das um 1475 entstandene Stundenbuch entstand tatsächlich für den zu jener Zeit regierenden Karl den Kühnen oder dessen unmittelbare Umgebung.
Antworten auf diese Fragen fallen nicht zuletzt deshalb so schwer, weil wir über den Verbleib der Handschrift seit ihrer Entstehung nur sehr wenig wissen. Erst im 19. Jahrhundert wird ihre Spur wieder konkreter: 1867 ist sie im Besitz des Kardinals Nicholas Yemeniz, später taucht sie in der Sammlung der Typographenfamilie Didot auf und gelangt nach weiteren Zwischenstationen 1912 in die Pierpont Morgan Library in New York.
Noch heute beten Mönche und Nonnen bestimmte Gebete zu festgelegten Tageszeiten. Mit dem Begriff “Stundenbuch” ist daher zunächst jenes Buch umschrieben, in dem diese Gebete zusammengefaßt sind, das aber im kirchlichen Sprachgebrauch meist als Brevier bezeichnet wird. Die prachtvollen Stundenbücher des Mittelalters sind jedoch keineswegs für Mönche, sondern für Laien geschaffen worden. Schon in karolingischer Zeit drängte es die hohen Adligen und vor allem natürlich die Herrscher selbst, das Leben der Mönche nachzuahmen und wie sie ein Gebetbuch mit sich zu führen. Aus diesen Fürstengebetbüchern entstanden schließlich jene reich ausgestatteten Stundenbücher des späten Mittelalters, wie sie etwa Willem Vrelant in Brügge schuf.
Sie enthielten in aller Regel neben einem Kalender mit den kirchlichen Festtagen, Auszüge aus den Evangelien und Gebetstexte. Die kostbare Ausstattung, die Miniaturen, das Schwelgen in Purpur, Schwarz und Gold hat seinen Ursprung zwar ebenfalls in der Vorstellung, durch diese Pracht Gott unmittelbar zu loben, doch ist davon auszugehen, daß die Stundenbücher des späten Mittelalters zunehmend Luxus- und Prestigeobjekte wurden, die “man” und “frau” einfach haben mußte, um seinen Reichtum zu dokumentieren. Den “Nerz der mittelalterlichen Dame”, nannte Eberhard König die Stundenbücher.
Ganz in diesem Sinn ist das Schwarze Stundenbuch aus der Pierpont Morgan Library aufwendig verziert: Alle 121 Pergamentfolios sind schwarz gefärbt, der Text ist durchgehend mit Silbertinte geschrieben. Die Kapitelanfänge sind mit Blattgold-Initialen hervorgehoben und mit smaragdgrüner Farbe hinterlegt. Auf mehr als der Hälfte der Folios finden sich leuchtend blaue Bordüren mit in Gold gehaltenen Verzierungen: Blumen, Akanthusblätter, Menschen und Tiere, die aus den Blättern herauszuwachsen scheinen…
Inhaltliches Kernstück des Schwarzen Stundenbuchs ist ein Marien-Offizium mit einer Marienmesse und dem häufig in Stundenbüchern wiederkehrenden Mariengebet “Obsecro te” (“Ich flehe dich an”). Die besondere Stellung des Marien-Offiziums zeigt sich auch in seiner herausgehobenen Ausstattung. Während die anderen Teile des Stundenbuchs jeweils durch ein ganzseitiges Bild eingeleitet werden, ist das Marien-Offizium mit acht Miniaturen geschmückt – wobei das Schlußbild die Krönung Mariens zeigt.
An den Faksimile-Verlag Luzern stellte die Faksimilierung des Schwarzen Stundenbuchs trotz seines vergleichsweise guten Erhaltungszustands höchste Ansprüche, mußte doch unter allen Umständen verhindert werden, daß Farbe oder gar Teile des Pergaments absplitterten. Die so entstandene faksimilierte Fassung gibt den heutigen Zustand des Originals wieder – es wurde nichts hinzugefügt, weggelassen oder gar “verbessert”. Ein wissenschaftlicher Kommentarband faßt den aktuellen Forschungsstand zusammen. Neben dem Gesamt-Faksimile ist auch eine Dokumentationsmappe mit zwei Original-Faksimiledoppelblättern erhältlich (Faksimile Verlag Luzern, Maihofstrasse 25, CH-6000 Luzern 9, Internet: http://www.faksimile.ch)
Literatur: Maurits Smeyers, Flämische Buchmalerei. Vom 8. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Welt des Mittelalters auf Pergament, Stuttgart 1999. Gerard Achten, Das christliche Gebetbuch im Mittelalter, Andachts- und Stundenbücher in Handschrift und Frühdruck, Berlin 1987. Claudia List/Wilhelm Blum, Buchkunst des Mittelalters. Ein illustriertes Handbuch, Stuttgart/Zürich 1994. Maximiliaan P. J. Martens, Memling und seine Zeit. Brügge und die Renaissance, Stuttgart 1998. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, 11. Auflage, Stuttgart 1975.
Uwe A. Oster