Es war das berauschende Gefühl der Macht, das Bewußtsein, nun plötzlich an erster Stelle zu stehen, der Wunsch, etwas Großes zu wirken, und vor allem der Trieb, in der Weltgeschichte zu glänzen, was den Caligula zeitweilig über sich selbst hinaufhob.“ Mit diesen Worten bereitete Ludwig Quidde den Leser seines Essays „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ auf das Unheil vor, von dem er berichten wollte. Der Aufsatz erschien 1894 in der liberalen Zeitschrift „Die Gesellschaft“ – und brachte seinem Verfasser eine dreimonatige Haftstrafe ein. Denn eigentlicher Protagonist der erfolgreichsten politischen Streitschrift im deutschen Kaiserreich, die als Sonderdruck über 30 Auflagen erlebte, war Kaiser Wilhelm II., in dem nicht nur Quidde wenige Jahre nach seiner Thronbesteigung die Saat einer pathologischen Veranlagung aufgehen sah.
Die Definition des Cäsarenwahns verstand Quidde daher fast als Psychogramm Wilhelms: „Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Mißachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose brutale Grausamkeit, sie finden sich auch bei anderen Geisteskranken; das Unterscheidende liegt nur darin, daß die Herrscherstellung den Keimen solcher Anlagen einen besonders fruchtbaren Boden bereitet und sie zu einer sonst kaum möglichen ungehinderten Entwicklung kommen läßt, die sich zugleich in einem Umfange, der sonst ganz ausgeschlossen ist, in grausige Taten umsetzen kann.“
Während wir heute die Wurzeln von Wilhelms „Cäsarenwahn“ weit in die Kindheit zurückverfolgen können, stellt sich die Frage, warum das römische Kaiserreich in den ersten 300 Jahren seiner Geschichte unter einer beeindruckenden Reihe von Herrschern litt, die wenigstens Teile ihrer Regierungszeit im Zustand geistiger Umnachtung zubrachten. Caligula, Nero, Commodus, Caracalla, Elagabal: Allen sagt zumindest ein Teil der Quellen Symptome des Cäsarenwahns nach. Bei anderen (Tiberius, Claudius, Domitian) lassen einzelne Charakterzüge Zweifel an ihrer geistigen Zurechnungsfähigkeit aufkommen. Warum brachte gerade Rom so viele paranoide Potentaten, debile Despoten und irrsinnige Imperatoren hervor?
Eine mögliche Antwort gibt wiederum Quidde, für den „der spezifische Cäsarenwahnsinn das Produkt von Zuständen [ist], die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt“. Quidde hielt diese Konstellation im römischen (und im deutschen) Kaiserreich für gegeben: Im Bann einer scheinbar unbegrenzten Machtfülle vergaß der Herrscher alle rechtlichen Schranken, unter dem Eindruck des Hofzeremoniells seine eigene Sterblichkeit, ja sein Menschsein: „So ist es ja wirklich zu verwundern, wenn ein absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt.“ Ludwig Quidde führt die geistige Disposition des Herrschers also auf die Gesellschaft zurück, die ihn umgibt.
Dieser Diagnose stellt die heutige althistorische Forschung ein anderes Erklärungsmuster entgegen. Aloys Winterling etwa hat in den antiken Quellen eine „erkennbar denunziatorische Tendenz“ ausgemacht, und diese müsse der Historiker herausarbeiten. So machten sich Forscher dar-an, Roms vermeintlich wahnsinnige Purpurträger von der Fama geistiger Unzurechnungsfähigkeit reinzuwaschen und dort sinnhaftes Handeln auszumachen, wo für einen Tacitus, Sueton, Cassius Dio oder Herodian der pure Wahnwitz waltete. In der Folge kamen so Caligula (Winterling), Commodus (Olivier Hekster) und unter gewissem Vorbehalt auch Nero (Gerhard Waldherr, DAMALS 8-2005) in den Genuß einer Rehabilitierung. Daß sich hinter dem selbstherrlichen Auftritt Domitians das „Projekt eines auf Charisma statt Akzeptanz gründenden Kaisertums“ verbarg, habe ich unlängst selbst plausibel zu machen versucht (DAMALS 6-2005).
Im folgenden soll nicht der Versuch im Mittelpunkt stehen, Handlungen, die antiken Autoren als Manifestation des Wahnsinns vorkamen, aus der Sicht des Historikers Sinn zu geben. Denn mindestens ebensoviel Interesse wie die römischen Herrscher-gestalten verdient das Echo, das sie in der römischen Historiographie fanden, also quasi ihre „Presse“. Wenn es wirklich eine denunziatorische Tendenz gab und sich diese in den ersten 300 Jahren des Prinzipats immer wieder gegen (verstorbene!) Imperatoren richtete, dann muß es dafür ebenso einen Grund geben wie für das offensichtliche Verschwinden dieser Tendenz im 3. Jahrhundert: Die Spätantike kannte wohl grausame Despoten, überforderte Kindkaiser und vom rechten Glauben abweichende Häre-tiker, aber nicht mehr den Typus des Geisteskranken im Purpur.
Eine Gesellschaft zieht Grenzen Gesellschaften brauchen Grenzen. Diese können geographisch definiert sein, also Zeugnis ablegen von den territorialen Besitzverhältnissen. Die Römer verschanzten sich hinter dem Schutzschild ihrer Legionen, die an der langen Außengrenze des Imperiums ihre Garnisonen hatten und unerwünschte Eindringlinge meist ohne viel Aufhebens abfingen. Die physische Präsenz der Grenze unterstrichen Flußläufe (Rhein und Donau im We-sten, der Euphrat im Osten), Wüsten, Steppen und Gebirge. Wo nichts Derartiges verfügbar war, entstanden seit dem 1. Jahrhundert Holzpalisaden und Steinbollwerke (wie der obergermanisch-rätische Limes und der Hadrian’s Wall im Norden Britanniens), die zwar kaum effektiven militärischen Schutz boten, aber die zivilisierte oikumene und das barbaricum deutlich als zwei Sphären trennten. Aber auch nach innen strebte die römische Gesellschaft nach Abgrenzung. Diese gewann symbolisch Gestalt im Amphitheater, wo die Bevölkerung nach Ständen gegliedert saß. Zudem bedeutete die Einfassung der Arena eine symbolische Scheidewand „an den Grenzen des Römerseins“ (so Egon Flaig): War im Zuschauerraum die römische Gesellschaft in ihren diversen Rangklassen vertreten (familia Caesaris, Senatoren, Ritter, stadtrömische plebs), so befanden sich in der Arena die mit dem Makel der infamia Behafteten: zum Tod verurteilte Verbrecher, Staatsfeinde und Kriegsgefangene sowie Gladiatoren – der negative Gegenpol, vor dem sich das Römersein im Ritual der Spiele immer aufs neue inszenieren konnte.
Mit einer Grenze umgibt sich eine Gesellschaft auch, indem sie sich ihre Definition des Wahnsinns schafft. So jedenfalls sieht es Michel Foucault mit Blick auf die moderne bürgerliche Gesellschaft: „Der Irre ist in seinem Sein nicht manifest; wenn er aber nicht anzuzweifeln ist, dann deshalb, weil er anders ist.“ Die Gesellschaft schiebe das Fremdartige aus ihrer Mitte an den Rand – weil es unbequem und gefährlich ist.
Die Relativität von Vernunft und mithin auch von Wahnsinn war den antiken Autoren, die so auffallend viele Kaiser als „Irre“ abstempelten, natürlich nicht bewußt. Dennoch operierten sie nach dem von Foucault beschriebenen Muster: Indem sie das Handeln der Herrscher der Sinnhaftigkeit beraubten und so eine Grenze zwischen „Irren“ und „normaler“ Welt zogen, manövrierten sie die „irren“ Herrscher in einen Raum, in dem sie der politischen und sozialen Ordnung auch im nachhinein nicht gefährlich werden konnten. Generell nämlich warf jeder „schlechte“ Kaiser für die Angehörigen des Senatorenstands, in deren Händen die Geschichtsschreibung maßgeblich lag, ein Problem auf. Während sich ein „guter“ Kaiser ostentativ als „Standesgenosse“ der Senatoren gab, sie zur Entscheidungsfindung anhörte sowie die an den Stand gebundenen Privilegien respektierte, setzte sich ein „schlechter“ Kaiser über die seit Augustus dominierende Fiktion hinweg, wonach der Kaiser lediglich „erster Mann“ (princeps) in einem System war, das angeblich bruchlos die republikanische Kontinuität fortsetzte…
Dr. Michael Sommer