Es wäre aber verfehlt anzunehmen, daß man aus den Sherlock-Holmes-Erzählungen etwas über die tatsächliche Arbeit der damaligen Kriminalpolizei erfahren könnte. Zwar bezeichnet Sherlock Holmes seine Methode immer wieder als wissenschaftlich, als “science of deduction and analysis”; er untersucht Blut- und Fußspuren und Gifte auf eine durchaus professionelle Art und Weise und arbeitet mit Lupe und Mikroskop. Dennoch haben seine Untersuchungsmethoden wenig mit der damaligen Polizeiarbeit zu tun, und es ist auch die Frage, ob man sie als wissenschaftlich bezeichnen kann. Zudem erscheint die Polizei bei Conan Doyle als zwar integer, aber total unfähig, und es bedarf immer wieder des großen Einzelgängers Sherlock Holmes, damit ein Fall gelöst wird. Man erfährt in Doyles Erzählungen wenig über die Verbrechen, die im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts an der Tagesordnung waren und mit denen die Polizei in der Regel konfrontiert wurde. Conan Doyles Detektiv hat es in der Regel mit von langer Hand und mit großer Intelligenz geplanten Verbrechen zu tun, mit Verbrechen also, die im London des 19. Jahrhunderts eher die Ausnahme bildeten.
Was man aus den Sherlock-Holmes-Erzählungen über die damalige Zeit erfahren kann, ist etwas ganz anderes. Der Erfolg der Erzählungen dokumentiert das ungeheure Interesse der damaligen Leser am spektakulären Verbrechen, das sich auch an der Reaktion der Öffentlichkeit auf die von “Jack the Ripper” begangenen Morde ablesen läßt. Die Leser waren aber nicht nur vom Verbrechen als dem Ausdruck des Bösen, des Irrationalen fasziniert, sondern hatten auch das Bedürfnis, daß dieses Irrationale schließlich rational bewältigt und unschädlich gemacht oder, mit den Worten Richard Alewyns, daß am Schluß die “Wildnis” in einen “geometrischen Garten” verwandelt wird. Eben das war in der Wirklichkeit oft nicht der Fall – so wurden die Morde Jack the Rippers bis heute nicht aufgeklärt. In den Sherlock-Holmes-Geschichten steht dagegen am Ende immer die Aufklärung. Der Erfolg dieser Geschichten ist aber nicht nur aus der Faszination durch das Verbrechen und dem gleichzeitigen Bedürfnis nach einem Helden und nach einer letztlich heilen Welt, in der jedes Verbrechen aufgeklärt wird, zu verstehen, sondern auch aus dem traditionellen Mißtrauen der Engländer gegen eine staatliche, professionelle Polizei. Eben deshalb ist Sherlock Holmes nicht Polizeibeamter, sondern Privatmann und Einzelgänger.
Der geniale Detektiv mit seinem Deerstalker-Hut, seinem Tweed-Anzug und seiner Pfeife, der auch die verzwicktesten Fälle löst, ist keineswegs eine originale Schöpfung Conan Doyes, sondern – fast – das Plagiat einer ähnlichen Figur, die der Amerikaner Edgar Allan Poe Jahrzehnte früher geschaffen hatte. Poes Detektiv C. Auguste Dupin ist ebenfalls Privatmann, und auch er ist ausgestattet mit einer weit überdurchschnittlichen Intelligenz, die es ihm ermöglicht, Fälle zu lösen, die die Polizei nicht zu lösen vermag. Auch die typische Struktur einer Sherlock-Holmes-Geschichte ist bei Poe schon vorhanden. So läßt sich die Struktur von Poes erster Dupin-Erzählung, “The Murders in the Rue Morgue” (1841), wie folgt beschreiben: In einem, wie es scheint, hermetisch von innen verschlossenen Zimmer ist ein Verbrechen begangenen worden. Dupin untersucht mit seinem namenlos bleibenden Begleiter das Mordzimmer und findet wichtige Hinweise auf den Hergang des Verbrechens und den Täter, während sein Begleiter blind für diese Hinweise ist. Am Schluß stellt Dupin dem Täter eine Falle und erklärt anschließend den Hergang der Tat und die Schlußfolgerungen, die ihn zur Lösung führten. Wenn man in diesem Resümee den Namen Dupin durch Sherlock Holmes und an die Stelle des namenlosen Begleiters Dr. Watson setzt, läßt es sich auch als Inhaltsskizze von Conan Doyles Erzählung “The Adventure of the Speckled Band” (1892; “Das gefleckte Band”) lesen. In beiden Fällen handelt es sich um ein locked-room puzzle (das Verbrechen geschah in einem von innen verschlossenen Raum), und beiden Geschichten liegt eine analytische Struktur zugrunde, bei der die gegenwärtige Handlung in erster Linie der Enträtselung vergangener Handlungen dient.
Dennoch täte man Conan Doyle unrecht, wenn man in seinem großen Detektiv nur ein Plagiat sähe. Poes Dupin verkörpert fast nur eine Verbindung von Intelligenz und Einbildungskraft, er ist fast nur Funktion und wird kaum zum Charakter. Doyle dagegen hat seinen Detektiv mit einer Fülle von Charaktereigenschaften ausgestattet. Er ist nicht nur hochintelligent und bei der Lösung eines Falles höchst aktiv, sondern hat zwischen seinen Fällen immer wieder Anfälle von Ennui und Lethargie, in denen er sich manchmal dem Spiel auf seiner Violine widmet, aber auch zum Rauschgift greift. Er ist ein Mensch mit seinem Widerspruch, ist Exzentriker und Künstler, der die Detektion nicht für Geld, sondern als Kunst um der Kunst willen betreibt, ja er ist sogar eine Verkörperung des Décadent um die Jahrhundertwende, auf dessen Verwandtschaft mit Oscar Wilde und seinem Romanhelden Dorian Gray wiederholt hingewiesen worden ist. Nur weil Sherlock Holmes ein so farbiger und dennoch stereotypisierter Charakter ist, konnte Conan Doyle ihn in 60 Geschichten – vier längeren und 56 Kurzgeschichten – auftreten lassen, und nur deshalb konnte Sherlock Holmes zum Mythos werden. Damit ist auch eine weitere Leistung Conan Doyles angesprochen. Während Poe seinen Dupin nur in drei Geschichten auftreten ließ, machte Doyle seinen Helden zur Serienfigur und damit zum Vorbild für all die anderen Detektive, die, wie etwa Agatha Christies Hercule Poirot oder Miss Marple, in zahlreichen Detektivromanen des jeweiligen Autors auftraten…
Rund um den großen Detektiv Fans können sich an der Stätte seines Wirkens mit Sherlock Holmes beschäftigen: The Sherlock Holmes Museum, 221b Baker Street, London; http://www.sherlock-holmes.co.uk/home.htm . Information und einen Rätsel-Wettbewerb rund um Sherlock Holmes bietet auch der Ort, an dem er (vorgeblich) zu Tode kam: Das Sherlock-Holmes-Museum in Meiringen in der Schweiz (Telefon: x33/9714221). Und wer noch tiefer einsteigen will, kann dies tun über die 1934 gegründete Sherlock Holmes Society of London bzw. über einen ihrer zahlreichen nationalen Ableger (http://www.sherlock-holmes.org.uk)
Dr. Ulrich Broich