Der leicht nach rechts gewandte, ursprünglich farbig gefasste Kopf gehörte zu einer um drei Meter hohen Statue, von der sich jedoch sonst nichts erhalten hat. Dass es sich nicht um das Bild eines Gottes oder einer mythischen Figur handelt, sondern um das Porträt einer bedeutenden Persönlichkeit, macht die markante Physiognomie deutlich: Dargestellt ist ein bartloser Mann mittleren Alters mit eher hageren Gesichtszügen, eng stehenden Augen, einer leicht gehöckerten Nase und markantem Kinn. Der energische, in die Ferne gerichtete Blick und die leicht geöffneten Lippen verleihen dem Bildnis einen pathetischen Zug. Das Gesicht rahmt ein voluminöser Haarkranz aus dicken Locken, der sich bei genauerer Untersuchung als eine Art Toupet herausstellt, das dem Kopf nachträglich aufgesetzt wurde. Zu diesem Zweck wurden die flach am Kopf anliegenden Sichellocken der ursprünglichen Frisur, die am Oberkopf und im Nacken immer noch erhalten sind, an Stirn und Schläfen abgearbeitet, so dass glatte, facettenartige Stückungsflächen entstanden. Darauf klebte man dann mit einer Art Kitt sieben separat gearbeitete Lockenkompartimente.
Einen wichtigen Hinweis auf die Identität des Porträtierten bietet die Stoffbinde im Haar, die im Nacken verknotet ist und als Diadem bezeichnet wird. Das Diadem war seit Alexander dem Großen in der griechi-schen Welt die königliche Insignie schlechthin. Unser Kopf, der aus stilistischen Gründen wohl ins späte 3. oder frühe 2. Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist, gehörte folglich zur Statue eines hellenistischen Königs.
Über die Benennung herrscht in der Forschung nach wie vor Uneinigkeit. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass man in Pergamon auch Statuen fremder Herrscher aufgestellt hat. Näher liegt es jedoch, an einen König aus dem Haus der Attaliden zu denken. Im Unterschied zu den Porträts der römischen Kaiser, deren Prototypen von offizieller Seite in Rom in Auftrag gegeben und dann im ganzen Reich verbreitet wurden, gab es ein derart normiertes Vorgehen in hellenistischer Zeit nicht. In unserem Fall kommt erschwerend hinzu, dass die Attaliden äußerst zurückhaltend waren und ihre eigenen Porträts im Unterschied zu anderen hellenistischen Herrschern und später den römischen Kaisern nur selten auf Münzen prägen ließen. Philetairos (281–263 v. Chr.), der Begründer des pergamenischen Reichs, ließ zeitlebens das Bildnis seines einstigen Oberherrn, König Seleukos’ I. Nikator von Syrien, auf die Münzen setzen. Nachdem sein Neffe Eumenes I. die Herrschaft übernommen hatte, gaben die Attaliden nur noch Münzen aus, die das Porträt des Dynastiegründers trugen. Soweit wir wissen, brach nur Eumenes II. (197–159 v. Chr.) mit dieser Regel und ließ sein eigenes Porträt auf Münzen prägen.
Ein Vergleich des überlebensgroßen Porträtkopfs in Berlin mit dem Münzbildnis Eumenes’ II. lässt jedoch wenig Gemeinsamkeiten erkennen. Aus diesem Grund wird der Berliner Kopf am ehesten Attalos I. (241–197 v. Chr.) darstellen, unter dem Perga‧mon zu einer Großmacht in der hellenistischen Staatenwelt aufstieg. Attalos war ein Neffe Eumenes’ I. und übernahm nach dessen Tod die Herrschaft. Die ersten Jahre seiner Regierung waren von schweren Kämpfen gegen die keltischen Galater bestimmt. Um 230 v. Chr. fügte ihnen Attalos eine entscheidende Niederlage bei, in deren Folge er den Ehrentitel Soter („Retter“) erhielt und den Königstitel annahm. Auf den Münzen schmückte fortan das königliche Diadem das Porträt des Philetairos, obwohl dieser selbst nie den Königstitel angenommen hatte. Der Sieg über die Galater war für die Attaliden von ungeheurer Symbolwirkung und diente der Legitimierung ihres Herrschaftsstrebens.
Es wurde vermutet, dass das Porträt Attalos’ I. umgearbeitet worden sei, als dieser den Königstitel annahm, um es majestätischer erscheinen zu lassen. Doch das Diadem war schon in der ursprünglichen Fassung vorhanden, wie der offenkundig nicht überarbeitete Hinterkopf mit dem Nackenknoten zeigt. Attalos wurde folglich von Anfang an als König dargestellt. Hinweise auf die Reparatur einer beschädigten Stelle gibt es ebenfalls nicht. Eines steht jedoch zweifelsfrei fest: Der Berliner Kopf gehört zu den eindrucksvollsten Herrscherporträts des Hellenismus.
Dr. Ralf Grüßinger