Im 13. Jahrhundert setzte sich ein neuer Stil des Kirchenbaus durch. Man baute größer, höher, schneller. Bauelemente wie Kreuzgratgewölbe, Rippengewölbe, Spitzbogen und Strebebogen hatte man schon vorher verwendet, doch nun wurden sie so raffiniert kombiniert, dass „Bauwerke von bis dahin unerhörter, ja undenkbarer Größe, Pracht und technischer wie ästhetischer Komplexität“ entstanden (so Robert L. Moore). In den neuen Kirchenbauten waren das Gewicht der Dachkonstruktion und die Schubkräfte des Gewölbes über Strebebogen auf Säulen und Pfeiler abgeleitet; die entlasteten Seitenwände boten Raum für hohe Fenster, die das Licht zu überwältigender Wirkung bringen. In der Sainte-Chapelle in Paris und in der Chorhalle im Aachener Dom meint man, die Wandfläche sei völlig in Fenster aufgelöst. Wer diese Technik beherrschte, sparte Kosten für den Rohbau und verkürzte die Bauzeit – doch umso höher wurden dann die Ausgaben für die Fenster.
Tausende meist anonym bleibender Bauleute verbesserten Bewährtes und erprobten Neues; kühn nutzten Bauherren die damit gegebenen Möglichkeiten. Ausgangspunkt der folgenden Darlegungen ist ein wohl um 1185 aufgezeichneter Bericht vom Wiederaufbau der Kathedrale von Canterbury, die am 5. September 1174 durch einen Brand zum Teil zerstört worden war. Der Chronik des Gervasius, eines Mönchs aus dem zur Kathedrale gehörenden Kloster, zufolge luden die Mönche, als sie den ersten Schock verkraftet hatten, französische und englische Architekten zu einem Symposion ein. Gervasius äußert sich nicht zu Einzelheiten; doch andere Quellen geben wertvolle Hinweise. Im Jahr 1170 war Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, ermordet worden. Er wurde gleich als Märtyrer verehrt und 1173, ein Jahr vor dem Brand, vom Papst heiliggesprochen. Zu seinem Grab strömten Pilger von nah und fern. An einem Tag mit viel „Betrieb“ könnte während des Gottesdienstes verkündet worden sein: Die Kathedrale soll rasch wiederaufgebaut werden; die Finanzierung ist gesichert; Fachleute werden auf Jahre Brot und Arbeit finden … Pilger, unter ihnen Handwerker, trugen die freudige Botschaft in ihre Heimat, auch nach Nordfrankreich. Bei günstigem Wind brauchte man von Dover, einem Hafen unweit von Canterbury, bis nach Rouen vielleicht drei bis vier Tage, bis nach Paris, Chartres, Reims ein paar Tage oder Wochen mehr. Fast in Windeseile breiteten sich solche Nachrichten unter Interessierten aus. Nach reiflicher Überlegung entschieden sich die Mönche des Kathedralklosters von Canterbury, den Neubau einem Werkmeister aus Nordfrankreich anzuvertrauen. Gervasius nennt seinen Namen: Wilhelm von Sens.
Die Meinung, im Mittelalter sei die Indivi- dua‧lität eines Künstlers noch nicht recht wahrgenommen worden, erweist sich als fragwürdig. Schrift- und Bildquellen sowie Gräber in Kirchen zeigen, dass Steinmetzen sich seit der Jahrtausendwende wachsenden Ansehens erfreuten. Am Tympanon, dem Bogenfeld über dem Portal der Kathedrale von Autun (um 1140), prangen die stolzen Worte: „Gislebertus hoc fecit“ („Giselbert hat das gemacht“). Ähnliche Inschriften an Glocken und liturgischen Geräten verkünden, dass Künstler sich ihres Wertes bewusst wurden. Bauherren wollten vorab wissen, mit wem sie es zu tun bekamen. Sie ließen sich Empfehlungsschreiben zeigen und fragten den Bewerber, wo er schon gearbeitet hatte; vor allem mussten seine Vorschläge einleuchten. Ein guter Werkmeister hatte im Voraus sorgfältig zu durchdenken, welche Arbeiten als Erste, welche gleichzeitig anfallen, welche im Lauf mehrerer Jahre in den verschiedenen Bauabschnitten durchzuführen sein würden. Verfügte er über gewinnende Umgangsformen, dann gelang es ihm, Wünsche des Bauherrn und die finanziellen Möglichkeiten aufeinander abzustimmen. Er brauchte Verhandlungsgeschick beim Einkauf von Stein, Holz, Eisen, Blei und anderen Materialien sowie Menschenkenntnis bei der Einstellung von Handwerkern und Künstlern…
Literatur: Norbert Ohler, Die Kathedrale, Düsseldorf 2008.
Günther Binding, Was ist Gotik, Darmstadt 2008.
Prof. Dr. Norbert Ohler