Wenig spektakulär ist der Anblick Babylons nach Auskunft des römischen Universalenzyklopädisten Plinius um die Mitte des 1. Jahrhunderts: „In Babylon steht noch der Tempel des Juppiter-Bel – Bel hat die Wissenschaft der Astronomie entdeckt; ansonsten ist der Ort völlige Ödnis!“ Doch wie desolat auch immer, ein Abglanz des einstigen Ruhms ist selbst jetzt noch greifbar, und nicht zufällig verbindet er sich mit einer Wissenschaft, der Astronomie. Wie kaum eine andere Disziplin ist seit der Antike die Himmelskunde mit dem Namen Babylon verknüpft: Der Zodiakus (Tierkreis), die Namen der Sternbilder, die 360-Grad-Teilung des Himmelskreises (und damit nicht nur das geometrische Gradsystem des Kreises, sondern zum Beispiel auch die Einteilung des Jahres oder der Uhr) – all diese Erkentnisse führen letzten Endes zurück nach Babylon.
Umstritten ist der Charakter der altorientalischen Wissenskulturen. Gewöhnlich werden diese Hochkulturen als vor- oder pseudowissenschaftlich beschrieben. Gewiss, man konzediert jahrhundertelange Erfahrung, mystische Weisheit und hohe Kunstfertigkeit auf dem Gebiet der Magie. Doch genau diese Begriffe disqualifizieren die dahinter verborgene Wissenskultur. Bereits im Altertum finden sich entsprechende Vorwürfe, etwa wenn der Prophet Jesaja der Stadt Babylon entgegenschleudert: „Deine Weisheit und deine Wissenskunst haben dich verführt, so dass du bei dir sprachest: Ich bin es und sonst keine! So tritt nun auf mit deinen Beschwörungen, der Gesamtheit deiner Zaubereien, um die du dich von Jugend auf bemüht hast, ob sie dir raten, dir helfen könnten! Du bist erschlafft in der Masse deiner Gedankengespinste. Lass doch heraustreten und dir helfen die Meister des Himmelslaufes, die Sterngucker, die nach den Monaten rechnen, was über dich kommen werde!“
Die fortschreitende Entschlüsselung der keilschriftlichen Überlieferungen liefert nun Einblicke in eine ganz andere, gleichermaßen fremdartige wie faszinierende intellektuelle Welt, eine Architektur des Wissens, die im Lauf von vielen Jahrhunderten und im Zusammenwirken verschiedener Kulturen in den Gesellschaften zwischen Euphrat und Tigris entwickelt wurde.
Das Streben nach Erkenntnis, organisiert als systematische Suche, geleitet von Prämissen, unterstützt durch Empirie, in Teilen kontrolliert und geprüft, wird in Mesopotamien schon früh sichtbar, etwa im Bereich der Theologie, der Linguistik oder auch auf dem Gebiet der Mathematik. Hinzu treten die Zeichenkunde (Divination), die Astronomie, die Heilkunde. All diese Gebiete sind zunächst durch einen unmittelbaren Praxisbezug charakterisiert: Man musste das Wesen der Götter kennen, um Gottesdienst, Kult und Ritual korrekt zu vollziehen. Man benötigte Geometrie, um die Felder zu vermessen, den Erdaushub für Kanäle oder die Kubatur (das Volumen) von Gebäuden zu berechnen. Sprachwissenschaft war weniger von der Notwendigkeit der unmittelbaren Verständigung in einer polyglotten Umwelt als zunächst durch die Erfindung der Schrift bedingt (wie kommt Sprache in Schrift?), später durch das Aussterben von Sprachen, wie des Sumerischen.
Doch auf all diesen Gebieten gibt es im späten 2. bzw. im Verlauf des 1. Jahrtausends v. Chr. eine kritische Schwelle, an der Fachleute zu Gelehrten, Experten zu Spezialisten werden, an der so etwas wie ein Überschuss an Forschung und Erkenntnisstreben entstand. Ein typischer Indikator, an dem der Übergang von eher praxisorientiertem Lösungswissen in den Bereich der freien Suche sichtbar wird, ist das Gedankenexperiment: die spekulative Entwicklung von Bedingungsgefügen, die in der Realität nicht vorkommen. Analogie, Opposition und Reihenbildung sind hier wichtige Techniken. So wird über die Bedeutung von Fehlbildungen in der Tierwelt nachgedacht. Während jedoch Kälber mit zwei, möglicherweise auch mit drei Köpfen in der Natur vorkommen, sind fünf, sieben oder neun Köpfe sicher kein Erfahrungswert. Lange hat man solche „Fortsetzungen“ für primitiv-bizarr gehalten. Heute wissen wir, dass damit die Reichweite, die Tragfähigkeit, die Plausibilität von Zusammenhängen erkundet wurde. Sie verbindet sich mit langen Beobachtungsreihen, gewissermaßen Langzeitaufzeichnungen, teilweise über Jahrhunderte, in denen man die Erscheinungen an Himmel und Erde verzeichnete, in Gruppen systematisierte und in umfangreichen Serien aufzeichnete. Astronomische Phänomene, Wettererscheinungen, klimatische Befunde, Erdbeben, Wasserstände wurden ebenso erfasst wie die Erscheinungsbilder von Schafslebern, das Verhalten von Eidechsen, Fehlbildungen bei Mensch und Tier. Hohes technisches Können steht neben uns merkwürdig, ja absurd erscheinenden Annahmen und Schlussfolgerungen…
Prof. Dr. Eva Cancik-Kirschbaum