Mitte der 1990er Jahre sah sich die Schweiz mit Entschädigungsforderungen von NS-Verfolgten und ihren Nachfahren – vor allem aus den USA – konfrontiert, die den Eidgenossen ihre Profite aus den „Raubgold“-Geschäften und das Einbehalten jüdischer Vermögen zum Vorwurf machten. Über die Reaktion der Schweiz sprach DAMALS-Redakteur Dr. Armin Kübler mit dem Schweizer Historiker Prof. Dr. Thomas Maissen.
DAMALS: Der Druck, den etwa der World Jewish Congress (WJC) auf die Schweiz ausübte, war beträchtlich. WJC-Geschäftsführer Elan Steinberg sprach 1996 „vom größten Raub der Menschheitsgeschichte“. WJC-Präsident Edgar Bronfman drohte sogar mit „totalem Krieg“: Die Schweiz werde von US-Anlegern boykottiert, sollte sie bei den Entschädigungsforderungen nicht einlenken. Wie reagierten die Eidgenossen?
Thomas Maissen: Zunächst muss man sagen, dass die Schweiz mit dieser späten Phase der Aufarbeitung kein Einzelfall war. Das Ende des Kalten Krieges 1990 und die anschließende Öffnung von bis dahin nicht zugänglichen Archiven im früheren Ostblock brachten in vielen europäischen Ländern Fragen zur Rückerstattung von Eigentum und der Entschädigung jüdischer NS-Verfolgter auf die Tagesordnung. Die Schweiz wurde von dieser Thematik allerdings kalt erwischt, weil in ihrem heroischen Selbstbild vom Zweiten Weltkrieg eine Verwicklung in den Holocaust nicht vorkam. Verschiedene „Feuerwehraktionen“ sollten dann einen noch größeren Image-Schaden verhindern. Im Mai 1996 riefen die Schweizer Banken gemeinsam mit jüdischen Organisationen die „Volcker-Kommission“ ins Leben. Sie sollte unter Vorsitz des frühen US-Notenbank-Chefs Paul Volcker die Schweizer Banken nach Konten von NS-Verfolgten durchforsten. Das Schweizer Außenministerium setzte zusätzlich im Herbst 1996 eine Task Force „Vermögenswerte Naziopfer“ ein. Als dritte Maßnahme beschlossen Parlament und Bundesrat im Dezember 1996 die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ [UEK]. Im Februar 1997 entstand dann ein „Spezialfonds zugunsten bedürftiger Opfer von Holocaust/Shoa“. Für diesen Fonds spendeten Schweizer Banken, Industrie, Versicherungsgesellschaften und die Nationalbank bis Ende 1997 rund 273 Millionen Franken. Einen Höhepunkt dieser hektischen Phase markierte dann im August 1998 ein außergerichtlicher Vergleich, bei dem sich die größten Schweizer Banken mit Sammelklägern in den USA auf eine Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar verständigten.
DAMALS: Gab es in der Schweiz auch politischen Widerspruch zu diesen Aktionen?
Maissen: Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei [SVP] – deren Abgeordnete im Parlament übrigens auch für die Einrichtung der Expertenkommission gestimmt hatten – und ihr damaliger Präsident Christoph Blocher entwarfen eine Gegenposition: Die Schweiz werde erpresst, man müsse sich nichts vorwerfen lassen, man sei im Zweiten Weltkrieg bereit gewesen, sich gegen die Nazis zu verteidigen. Das war die Sichtweise vor allem der sogenannten Aktivdienstgeneration, die während des Krieges an der Grenze gestanden hatte. Aber es muss auch klar gesagt werden, dass die Schweiz das einzige Land ist, das das Thema Umgang mit NS-Verfolgten nicht mit Empathie für die Opfer anging, sondern nach dem Motto: „Wir sind unschuldig, aber wenn ihr wollt, beweisen wir euch das gerne noch mal“.
DAMALS: Führte das dazu, dass die Expertenkommission – entgegen ihrem Titel – nicht „unabhängig“ war, sondern unter politischem Druck stand?
Maissen: Das denke ich nicht. Dass die Regierung auf ein solches Gremium Druck ausübt, ist im politischen System der Schweiz – mit einer Vier-Parteien-Regierung – sehr unwahrscheinlich. Öffentlichen Widerspruch der Rechten gab es natürlich. Doch das Problem war ein anderes: Die Politik hat sich das Falsche erhofft. Man dachte, die Kommission würde zu einer klaren historischen Wahrheit finden, aus der sich politische Handlungsanweisungen ableiten lassen. Das war schlicht naiv. Die Abklärungen dauerten fünf Jahre, viel zu lange zur Behebung einer politischen Krise. Zudem waren viele Dokumente, die man dazu gebraucht hätte, nicht mehr vorhanden, entweder allein aufgrund der zurückliegenden Zeit oder weil man tatsächlich in den Jahren nach dem Krieg versucht hatte, Dinge zu vertuschen.
DAMALS: Als UEK-Präsident Jean-François Bergier die Ergebnisse vorlegte, sorgten die Aussagen zur Flüchtlingspolitik für großen Wirbel. Besonders strittig waren die Zahlen zu den abgewiesenen Flüchtlingen. Laut UEK waren es 24.500, andere Studien, die Kritiker des Bergier-Berichts vorbrachten, zählten wesentlich weniger. Wer hat recht?
Maissen: Es gibt hier ganz klar ein Überlieferungsproblem. Gerade zu den Flüchtlingen sind viele Archivalien nicht mehr verfügbar. Bei den Daten, die man vorliegen hat, stellt sich natürlich die Frage, wie man sie interpretiert. Wenn beispielsweise die Abweisung eines Flüchtlings dokumentiert wurde, konnte es durchaus sein, dass derselbe Flüchtling zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort nochmals versuchte, über die Grenze zu kommen – und es vielleicht auch schaffte. Dann stellt sich die Frage: Was zählt, der Grenzübertritt oder die Abweisung? Umgekehrt: Wurden alle Abweisungen dokumentiert? Ich gehe davon aus, dass die Bergier-Kommis‧sion mit ihren Zahlen – die übrigens auch nicht neu waren, die ersten offiziellen Berechnungen kamen schon in den 1950er Jahren auf rund 10.000 dokumentierte Abweisungen – in der richtigen Dimension lag. Die Kritiker der Studie verfolgten eindeutig eine politische Stoßrichtung. Mit ihrer teils kleinlichen Aufrechnung wollten sie nachweisen, dass die Historiker generell übertrieben hatten. Das Grundproblem der schweizerischen Flüchtlingspolitik, ihre antisemitische Ausrichtung, kann man aber nicht wegrechnen. Die Kommission hat aufgezeigt, dass die Schweiz in den 1930er und 1940er Jahren viel stärker, als man das wahrhaben wollte, in die europäische Normalität des nationalistischen Antisemitismus eingebunden war.
DAMALS: Im Abschlussbericht der Kommission steht: „Gemessen an ihren humanitären und asylpolitischen Vorstellungen, verfehlte die neutrale Schweiz in der Flüchtlingspolitik nicht nur den selbstgesteckten Standard, sondern verstiess auch gegen elementare Gebote der Menschlichkeit“. Muss man das nicht differenzierter sehen – schließlich gab es auch private Flüchtlingshilfe?
Maissen: Sie haben recht, man könnte von einer informellen Arbeitsteilung sprechen: Einerseits gab es seit 1942 die offizielle Position der Zurückweisung von erwachsenen jüdischen Flüchtlingen, anderseits erfuhren die Flüchtlinge auch Hilfe; das reichte vom Roten Kreuz – das sich allerdings nicht unbedingt mit Ruhm bekleckerte – bis zu privaten, teilweise auch gesetzeswidrigen Initiativen. Die Schweiz als Staat wurde jedoch ihrem eigenen Selbstbild von einem humanitären Land, das zwischen kriegführenden Parteien vermittelt und Schutz Suchenden hilft, nicht gerecht. Und diejenigen Schweizer, die gegen Gesetze verstoßen hatten, um zu helfen, konnten selbst nach dem Krieg nicht mit Nachsicht rechnen.
DAMALS: Der UEK wurde eine gewisse Widersprüchlichkeit vorgeworfen. Sie habe sich als Ankläger verstanden, obwohl es im Bericht selbst heißt: „Eine Historikerkommission ist kein Gericht“.
Maissen: Laut den Kritikern – vor allem von der politischen Rechten – hat die Kommission bei ihrer Arbeit nicht berücksichtigt, wie schwierig die Situation während der Kriegsjahre in der Schweiz gewesen sei: die Bedrohungslage, die Nahrungsmittelknappheit. Es seien keine Zeitzeugen befragt worden, und die Stimmung in der Bevölkerung habe man nicht erforscht. Zudem sei die Rolle der militärischen Landesverteidigung geringgeschätzt worden. Die Bergier-Kommission hat darauf – aus meiner Sicht zu Recht – geantwortet, dass diese Punkte in einer 50-jährigen Nabelschau der Schweizer Nationalgeschichte bereits überaus reich dokumentiert worden waren – und vor allem nicht Gegenstand des Auftrags der Kommission waren. Sie sollte schließlich keine historische Gesamtdarstellung entwickeln, sondern eine historische und rechtliche Abklärung der „Rolle der Schweiz, insbesondere des Schweizer Finanzplatzes“ in der NS-Zeit.
DAMALS: Bei der „Geistigen Landesverteidigung“, mit der man sich in der Schweiz während des Kriegs gegen die faschistischen Ideologien in Deutschland und Italien wappnete, kam nationalen Mythen eine besondere Bedeutung zu. Spielte eine solche Mythologisierung der eigenen Geschichte auch nach 1945 für die Erinnerung an die Kriegsjahre eine Rolle?
Maissen: Das ist sogar entscheidend. Nach Kriegsende gab es, anders als in den anderen, von mehrfachen Katastrophen heimgesuchten Ländern, keinen klaren Bruch in der Selbstwahrnehmung der Schweiz. Noch bis April 1945 hatte die Schweiz Gold vom Deutschen Reich angekauft. Die Logik – pragmatisch gedacht, nicht ideologisch – lautete: Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner und wird das auch nach Ende des „Dritten Reichs“ bleiben. Deshalb behandelten die Alliierten, vor allem die USA und die Sowjetunion, die Schweiz nach Kriegsende wie einen Paria. Sie kreideten dem Land die intensiven Wirtschaftsbeziehungen zu NS-Deutschland an. Für die Schweiz war das eine ungewohnte und politisch sehr unangenehme Situation. So kam es unter anderem zur Unterzeichnung des Abkommens von Washington 1946: Die Schweiz zahlte 250 Millionen Franken, dafür ließen die Alliierten ihre Ansprüche auf das während des Kriegs von der Schweizer Nationalbank angekaufte deutsche Raubgold fallen. Mit dem Beginn des Kalten Kriegs seit 1947 konnte die Schweiz aber bereits wieder zur Abwehr der ideologischen Bedrohung durch den Kommunismus nahtlos an die „Geistige Landesverteidigung“ anknüpfen. Zentral war dabei wieder der Mythos der Schweiz als historischer Sonderfall: Ein Land von freiheitsliebenden, demokratischen Bürgern und Bauern, das seit dem 16. Jahrhundert neutral geblieben sei. Diese Grundhaltung prägte noch bis in die 1970er Jahre fast die gesamte Bevölkerung. Fragen nach der Außen- und Wirtschaftspolitik während des Zweiten Weltkriegs wurden dann erstmals von der „Neuen Linken“ gestellt. Breiter diskutiert wurden diese Themen allerdings erst nach dem Fall der Mauer 1989.
DAMALS: Sie haben in Ihrer Laufbahn viel Zeit in den Nachbarländern der Schweiz verbracht. Wie hat man aus Ihrer Sicht im Ausland die Auseinandersetzung der Schweiz mit der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg wahrgenommen?
Maissen: Ich denke, dass die eben beschriebene Schweizer Selbsterzählung, dass man im Zweiten Weltkrieg neutral und damit schuldfrei geblieben sei, aus Sicht des Auslands nie plausibel war. Aber im Ausland hat es die meisten einfach nicht gekümmert. Dass das Thema international Schlagzeilen machte, war eine vorübergehende Erscheinung. Am Bild der Schweiz im Ausland blieben durch die Vorwürfe sicher Kratzer, auch wenn anerkannt wurde, dass sich das Land der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit stellte – und auch etwas bezahlt hat. Man muss allerdings festhalten, dass ein Teil der in den 1990er Jahren diskutierten Fragen nicht beantwortet werden konnte. Es fehlen einfach entscheidende Dokumente. Hier sind wir gleich weit wie vor 20 Jahren. Die wesentliche Frage ist allerdings auch nicht die buchhalterische Zuordnung von einzelnen nachrichtenlosen Vermögen, sondern die historiographische und politische Beurteilung, mit welchen Praktiken und Werten die Schweiz sich international etabliert hat und weiter positionieren soll.
Interview Dr. Armin Kübler