Während des Zweiten Weltkriegs waren viele Russen den einmarschierenden Deutschen freundlicher gesinnt als lange angenommen. Eine neue Auswertung von Dokumenten und Augenzeugenberichten aus dem Nordwesten Russlands belegt, dass gerade die ländliche Bevölkerung Russlands die deutschen Truppen sogar freudig begrüßten – als Befreier von Stalins Terrorherrschaft und Landreform.
In der offiziellen Geschichtsschreibung der Sowjetunion und später Russlands wurde immer wieder betont, wie loyal und geeint die Bevölkerung im “Großen Vaterländischen Krieg” im Zweiten Weltkrieg gegen die Truppen Nazideutschland gekämpft hätten. Dem allerdings widersprechen Berichte vieler deutschen Soldaten, die davon erzählen, dass gerade die Landbevölkerung sie nach dem Einmarsch begeistert empfangen hatte.
Freudiger Empfang durch die Landbevölkerung
Doch welche Version der Geschichtsschreibung stimmt? Das hat der norwegische Historiker Johannes Due Enstad nun erneut anhand untersucht. Er wertete für seine Studie zeitgenössische Dokumente aus den deutschen und russischen Staatsarchiven aus sowie Tagebücher, Erinnerungen und Interviews, die kurz nach dem Krieg im Nordwesten Russlands geführt wurden. “Dieses Gebiet kann sowohl in historischer wie geografischer Hinsicht als Kernland Russlands angesehen werden”, sagt Enstad. Der Nordwesten Russlands gehörte zu den ersten Gebieten, die von den deutschen Truppen im Juni 1941 angegriffen und eingenommen wurden.
Wie die Auswertung der Dokumente ergab, stand die russische Bevölkerung dabei den Eroberern alles andere als feindlich gegenüber: “Vor allem die Bauern, die 90 Prozent der Bevölkerung in diesem Gebiet ausmachten, waren dem sowjetischen Staat und Regime gegenüber sehr viel weniger loyal als man bisher dachte”, berichtet Enstad.
Verdeutlicht wird dies durch zahlreiche subversive Akte, mit denen die Landbevölkerung ihre neuen Herren begrüßten und unterstützten, wie Enstad erklärt. So sammelten die Bewohner einiger Dörfer im Dezember 1941 tausende von Wollsocken, Handschuhen und Fellstiefeln für die deutschen Soldaten. In einer der Socken steckte ein Zettel, auf dem ein Russe namens Mikhail Nikiforov geschrieben hatte: “Ich sende diesen Socken als Geschenk an die unbesiegbare deutsche Armee und bete, dass sie die Bolschewiken besiegen, damit sie für immer ausgerottet werden.”
“Ihr habt uns vom Joch befreit”
Doch warum unterstützte die russische Landbevölkerung damals ausgerechnet den Feind? Wie Enstad erklärt, war ein wichtiger Grund das bei vielen Bauern verhasste Stalinregime. “Für viele Bauern hatte sich ihr Leben von schlecht zu noch schlechter verschlimmert, weil das Regime die kollektive Landwirtschaft mit großer Brutalität durchsetzte”, erklärt der Historiker. Stalin enteignete die Kleinbauern und machte sie zu nahezu rechtlosen Arbeitern auf den Kolchosen. Viele wurden nach Sibirien deportiert oder erschossen, zudem kam es zu wiederholten Missernten und Hungersnöten.
Angesichts dieser Umstände sei es daher kaum verwunderlich, dass die Bauern in den Deutschen eher Befreier als Feinde sahen, sagt Enstad. Zeugnis davon gibt einer der Briefe, die den deutschen Soldaten im Jahr 1941 von russischen Bauern zugespielt wurden: “Wir danken euch für die Befreiung von Stalins Lakaien und den kollektiven Farmen…”, heißt es darin. “Ihr habt uns vom Joch der verdammten Kommunisten der politischen Führer und der stalinistischen Regierung befreit.”
Tatsächlich ging es vielen Bauern unter der deutschen Besatzung zunächst besser: Im Nordwesten Russlands durften sie wieder eigenes Land bewirtschaften und viele der ohnehin nicht sehr ertragreichen Kolchosen wurden aufgelöst. Zwar kam es während des Krieges nahe der Frontlinie und in Städten durchaus zu Hungersnöten, aber hinter der Front und vor allem im ländlichen Raum hatten weite Teile der Bevölkerung eine bessere Nahrungsmittelversorgung als vor dem Einmarsch der Deutschen, so der Historiker. “Viele Quellen, die nach dem Krieg interviewt wurden, berichten, dass es ihnen während der deutschen Besatzung auch besser ging als dann nach dem Rückzug der deutschen Truppen”, sagt Enstad.
Religion als weitere Motivation
Ein weiterer Grund für die wenig vaterländische Haltung der Landbevölkerung im Nordwesten Russlands war die Religion: Stalin hatte viele orthodoxe Kirchen schließen lassen und verbot Gottesdienste und andere religiöse Zeremonien. Die deutschen Truppen dagegen hoben dieses Verbot auf und ließen auch Kirchen wiedereröffnen – zur Freude der Priester und der Bevölkerung. Viele Priester hätten damals die Besatzer offen unterstützt und in ihren Predigten und Gottesdiensten für einen Sieg der Deutschen gebetet”, sagt Enstad.
Allerdings mischte sich in die Begeisterung durchaus der Wunsch, die deutschen Befreier möchten doch recht bald auch wieder abziehen: “Die Wiederöffnung der Kirchen führte auch zu einem erstarkenden russischen Nationalismus”, berichtet Enstad. “Es gab in der Bevölkerung durchaus eine Art Patriotismus – nur war dieser mit dem russischen Vaterland verknüpft und nicht mit dem sowjetischen Regime.” Konkret gesagt: Die Deutschen sollten das russische Volk von den Sowjets und Stalin befreien, dann aber ruhig wieder nach Hause gehen.
Umschwung erst im Jahr 1943
Erstaunlich auch: Gerade im Jahr 1942 wurden nach und nach immer mehr Gräueltaten der deutschen Besatzer in Russland bekannt. Neben der Ausrottung der Juden war dies vor allem der Hungertod von zehntausenden russischen Kriegsgefangenen in den Lagern. “Dennoch gab es in der Sicht der russischen Bevölkerung auf die Besatzer zunächst kaum Veränderungen – bis zum Herbst 1943, als mehr und mehr klar wurde, dass der deutsche Rückzug bevorstand”, berichtet Enstad. “Erst dann nahm der passive und aktive Widerstand gegen die deutschen Besatzer merklich zu.”
Quelle: Universität Oslo, Fachartikel: Endstad 2018; “Soviet Russians under Nazi Occupation: Fragile Loyalties in World War II”, Cambridge University Press