Schon länger rätseln Archäologen über seltsame Tote, die vor rund 1500 Jahren in Süddeutschland bestattet wurden. Denn die Schädel dieser frühmittelalterlichen Menschen waren auffallend langgezogen und flachgedrückt – offenbar absichtlich deformiert. Um der Herkunft dieser Toten und ihre Stellung unter den einheimischen Bajuwaren aufzuklären, haben Forscher nun das Erbgut von rund 40 in Bayern bestatteten Menschen aus der Zeit um 500 nach Christus untersucht – mit überraschenden Ergebnissen.
Das fünfte und sechste Jahrhundert waren eine Phase des Umbruchs in Europa: Nach dem Ende des Römischen Reichs und der Völkerwanderungszeit begann die Zeit des frühen Mittelalters. Aus dem Völkergemisch in Mitteleuropa bildeten sich die Stämme der Alamannen, Franken und Langobarden und auch die Bajuwaren haben vermutlich ihren Ursprung in dieser Ära. Welche Bevölkerung in der Zeit um 500 nach Christus auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reichs in Bayern lebte, hat nun ein internationales Team um Michaela Harbeck von der Staatssammlung für Anthropologie München und Joachim Burger von der Universität Mainz näher untersucht.
Eines ihrer Ziele war es dabei, das Rätsel der Toten mit den deformierten Köpfen zu lösen. Denn schon mehrfach sind in Süddeutschland die Reste frühmittelalterlicher Menschen gefunden worden, deren Köpfe auffallend langgezogen und flachgedrückt waren – wahrscheinlich durch absichtliche Deformation des Schädels im Kindesalter. “Eltern umwickelten dafür den Kopf ihrer Kinder einige Monate lang nach der Geburt mit Bandagen, um die gewünschte Kopfform zu erreichen”, erklärt Harbeck. “Warum sie dieses aufwendige Verfahren durchführten, ist heute schwierig zu beantworten, aber wahrscheinlich wurde damit einem bestimmten Schönheitsideal nachgeeifert oder vielleicht auch eine Gruppenzugehörigkeit angezeigt.” Über den Ursprung dieses Brauchs in Mitteleuropa gab es bislang jedoch nur Vermutungen. Weil solche Schädeldeformationen auch von den Hunnen bekannt sind, werden sie jedoch vielfach ihrem Einfluss während der Völkerwanderung zugeschrieben.
Dunkeläugige “Turmschädel”-Frauen
Für ihre Studie haben die Forscher das Erbgut und die Anatomie von etwa 40 Toten aus der Zeit um 500 nach Christus aus Süddeutschland analysiert. Die Untersuchungen der Schädel ergaben, dass mindestens neun den typischen “Turmschädel” besaßen – und alle waren Frauen. Die zur gleichen Zeit bestatteten Männer und einige weitere Frauen hatten dagegen völlig normale, naturbelassenen Kopfformen. Doch trotz dieser auffallenden anatomischen Unterschiede waren alle Toten auf gleiche Weise und mit sehr ähnlichen Grabbeigaben beigesetzt worden – offenbar gehörten sie alle zu ihrer jeweiligen Dorfgemeinschaft.
Die DNA-Vergleiche jedoch enthüllten weitere Unterschiede: Die Frauen mit den deformierten Schädeln besaßen größtenteils braune Augen und dunkle Haare. Die restlichen Toten dagegen waren zu ihren Lebzeiten mehrheitlich blauäugig und blond, wie die Forscher berichten. Und auch die genetische Abstammung der beiden Gruppen war verschieden: Während ein Großteil der Bajuwaren genetisch den typischen Mittel- und Nordeuropäern entsprach, fielen die “Turmschädel”-Frauen völlig aus dem Raster. Ihr Genom ähnelte stärker den Gensignaturen des Balkanraumes als denen Mitteleuropas.
Herkunft vom Balkan
Nach Ansicht der Wissenschaftler spricht dies dafür, dass die Frauen mit der Schädeldeformation ursprünglich nicht aus Bayern stammten, sondern aus dem Schwarzmeerraum eingewandert sein müssen. “Zwar gibt es deutliche Hinweise, dass es auch Einflüsse aus Zentral- oder gar Ostasien gab, aber die genomische Herkunftsanalyse verweist darauf, dass die Frauen mit deformiertem Schädel genetisch heutigen Bulgaren und Rumänen am ähnlichsten sind”, berichtet Burger. “Ein direkter genetischer Einfluss von zentralasiatischen Hunnen kann nur marginal gewesen sein.” Dies widerspricht der Annahme, dass diese Frauen direkte Nachfahrinnen der Hunnen waren und daher deren Tradition der Schädeldeformation weitergeführt hatten.
Stattdessen kamen die “Turmschädel”-Frauen offenbar vom Balkan nach Mitteleuropa. “Es ist dies ein einmaliges Beispiel von weiblicher Mobilität, die größere Kulturräume überbrückt”, sagt Burger. Warum diese Frauen – und nur die Frauen – vor 1500 Jahren diesen weiten Weg auf sich genommen haben, ist bisher unklar. Eine Möglichkeit wäre, dass diese Frauen in ihrer Heimat eine hohe Stellung innehatten und quasi als politisches Unterpfand nach Bayern verheiratet wurden, so die Spekulation der Forscher. Denn die Schädeldeformation ist ein eher langwieriger und aufwändiger Prozess, der meist nur bei hochrangigen Personen durchgeführt wurde.
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.1719880115a