Mehr als ein halbes Jahrtausend lang regierten muslimische Herrscher in Indien. Sie ließen zahlreiche Texte aus den indischen Sprachen ins Persische übersetzen. Es war einer der bedeutendsten Wissenstransfers der Weltgeschichte. Wissenschaftler erkunden jetzt, wie sich genau dieser Transfer entwickelte.
Die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Eva Orthmann von der Universität Bonn sammelt und untersucht diese Übersetzungen gemeinsam mit der Universität Sorbonne nouvelle – Paris III. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und ihr französisches Pendant Agence Nationale de la Recherche (ANR) fördern das Vorhaben namens „Perso-Indica“ mit insgesamt 470 000 Euro. Im Jahre 1206 entstand das „Sultanat von Delhi“, ihm folgte von 1526 bis 1858 das Reich der Großmoguln (siehe DAMALS 1/2014). Die muslimischen Eroberer fanden eine hochentwickelte Kultur vor: philosophische Lehrbücher, historische Epen oder erotische Dichtung, aber auch wissenschaftliche Untersuchungen etwa zur Medizin, Mathematik und Astronomie. Vieles ließen die neuen Herrscher ins Persische, die Sprache der muslimischen Eliten in Indien, übersetzen. Es war aus Sicht Orthmanns der weltweit bedeutsamste Kulturtransfer von einer Sprache zur anderen, seit die wissenschaftlichen Texte der griechischen Antike ab dem 8. Jahrhundert ins Arabische übersetzt wurden und so dem Vergessen entgingen.
„Perso-Indica“ ist in vieler Hinsicht ein Pionierprojekt, sagt Prof. Orthmann: „Zum Beispiel, weil wir nicht einmal wissen, wie viele solche Texte es überhaupt gibt. Der erste Schritt ist deshalb, sie alle zu erfassen.“ Die Forscher haben eine Online-Datenbank konstruiert, in die zahlreiche Experten weltweit ihre Erkenntnisse eintragen sollen. Anschließend stellt sich für jeden Text eine Vielzahl von Fragen: Wer ließ welchen Text übersetzen? Wann und wo? Für welchen Leserkreis? Und warum? „Solche Übersetzungen macht man nicht einfach so“, sagt die Islamwissenschaftlerin. „Sie kosten viel Geld. Wir fragen also: Welche Interessen standen dahinter?“
Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. „Für Medizin und Mathematik lässt sich ganz pragmatisch ein wissenschaftliches Interesse annehmen.“ Aber was wollten die Moguln wohl mit einer persischen Version des Nationalepos „Mahabharata“? Es ist vier Mal so lang wie Tolkiens sechsbändiger Zyklus „Herr der Ringe“. Eva Orthmann vermutet dahinter eine politische Absicht: „Eine Theorie ist, dass die Mogulkaiser das Epos vor allem als eine Darstellung von indischen Herrschern und ihrer Geschichte verstanden.“ Indem sie es in die persische Literatur einfügten, stellten sie sich im Gegenzug zugleich in die Tradition der indischen Könige.
Im 18. Jahrhundert begann der Stern der Moguln zu sinken: Die Briten eroberten Indien und erlagen bald selbst der Faszination der jahrtausendealten Kultur. Um sie kennenzulernen, nutzten auch sie zunächst den Umweg über das Persische. Die spätesten „Perso-Indica“-Texte stammen aus den 1830er Jahren und entstanden im Auftrag britischer Forscher und Militärs.