Vor allem im frühen Mittelalter waren die Menschen Europas überraschend gesund. Zu diesem Fazit kommt nun eine umfangreiche bioarchäologische Überblicksstudie, die sich mit der Entwicklung des gesundheitlichen Niveaus unserer Vorfahren in den letzten 2000 Jahren beschäftigt hat.
Hunger, schwere Arbeit, Krankheiten, Gewalt – und kaum medizinische Versorgung: Um die Gesundheit der Menschen in der Vergangenheit war es eher schlecht bestellt, könnte man meinen. Inwieweit dies tatsächlich zutrifft und wie sich dieser Aspekt im Laufe der Geschichte entwickelt hat, ist bislang aber nur wenig konkret dokumentiert. Diesem Forschungsthema hat sich nun ein internationales Forscherteam mit Beteiligung der Universität Tübingen gewidmet. Die Studie basiert auf der Auswertung von Untersuchungs-Daten von mehr als 15.000 Skeletten aus mehr als 100 Regionen Europas. Sie stammen aus der Zeitspanne zwischen dem 3. Jahrhundert n. Chr. und der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Wissenschaftler betrachteten im Rahmen der Untersuchungen die Gesundheit der Zähne, die Körpergröße sowie verschiedene andere Messgrößen zur Ernährungsqualität und Arbeitsbelastung. Sie verglichen außerdem, wie viele der Menschen auf gewaltsame oder aber auf friedliche Weise gestorben waren. Abschließend setzten die Forscher ihre Ergebnisse in Bezug zu klimatischen und sozioökonomischen Entwicklungen in der europäischen Geschichte.
Von wegen dunkles Zeitalter
Es zeichnete sich ab: Obwohl das frühe Mittelalter (zwischen 500 und 1000 n.Chr.) oft als das „dunkle Zeitalter“ beschrieben wird, waren die Menschen damals deutlich gesünder als in den folgenden Zeiten. Ihre Gesundheit kann sich sogar mit der der Menschen des industrialisierten 19. Jahrhunderts messen, sagen die Forscher. Ihnen zufolge erfreuten sich im Frühmittelalter auch nicht etwa nur die Vertreter der privilegierten Schichten einer guten Gesundheit: Auch den Mittel- und sogar den Unterschichten ging es vergleichsweise gut.
Das Team fand in diesem Zusammenhang Hinweise auf einen deutlichen Effekt der sogenannten Justinianischen Pest, die im Laufe des 6. Jahrhunderts im spätantiken Europa Millionen von Menschenleben gefordert hatte. In den Untersuchungsergebnissen zeichnet sich demnach ab, dass nach der Seuche die Gesundheit der Bevölkerung deutlich zugenommen hat. Wie die Wissenschaftler erklären, lag dies wohl hauptsächlich an dem Bevölkerungsschwund: Den Generationen, die direkt nach der Pest geboren wurden, standen deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung, was zu besseren Lebensbedingungen des Einzelnen führte.
Nach dem Frühmittelalter ging’s bergab
Anschließend kehrte sich dieser Trend dann wieder um, sagen die Forscher: Unterm Strich nahm das Gesundheitsniveau seit dem Frühmittelalter bis zur Phase der Industrialisierung konstant ab. Wie sie erklären, lag dies neben der erneut wachsenden Bevölkerungsdichte auch an der steigenden sozialen Ungleichheit, sowie an der sogenannten kleinen Eiszeit. Diese ungewöhnlich kalte Klimaphase sorgte im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit für schwache Ernteerträge und strenge Winter. Im Rahmen des Abwärtstrends zeichnen sich aber auch günstige Einflussgrößen ab, sagen die Forscher: Ab dem 15. Jahrhundert sorgte demnach die verstärkte staatliche Kontrolle für mehr Sicherheit und damit für weniger Gewalt innerhalb der Gesellschaften Europas.
Den Forschern zufolge werfen ihre Ergebnisse somit nun mehr Licht auf die Frage, welchen Einfluss ökonomische, klimatische und gesellschaftliche Veränderungen auf die menschliche Gesundheit in der Geschichte hatten. Ihre Studie kann damit einen Beitrag zum Verständnis der historischen Zusammenhänge leisten und somit helfen, aus der Geschichte zu lernen, sind die Wissenschaftler überzeugt.
Quelle: Universität Tübingen, Originalpublikation: „The Backbone of Europe – Health, Diet, Work and Violence over Two Millennia“. Richard H. Steckel, Clark Spencer Larsen, Charlotte A. Roberts, Joerg Baten (Hrsg.). Cambridge University Press 2018