Berichte von Wasserwundern Heiliger und Analyseergebnisse eines Tropfsteins: Durch die Verbindung von historischen mit geochemischen Untersuchungen wirft ein interdisziplinäres Forscherteam Licht auf eine spätantike Klimaveränderung in Norditalien sowie deren kulturelle Wirkung. Die verstärkten Regenfälle und Überflutungen im 6. Jahrhundert spiegeln sich demnach in ungewöhnlichen religiösen Geschichten der Zeit wider. Darin zeigen die italienischen Heiligen ihre Macht über das Element Wasser.
Wie das Forscherteam berichtet, bildete die Untersuchung eines Stalagmiten aus der Renella-Höhle in der nördlichen Toskana die Grundlage der klimahistorischen Komponente ihrer Studie. Wie sie erklären, können die Mineralschichten von Tropfsteinen, die sich ähnlich wie Baumringe im Lauf der Zeit ablagern, Aufschluss über klimatische Entwicklungen in der Vergangenheit liefern. Für die Studie haben sie die Verhältnisse der Sauerstoffisotope in den aufeinanderfolgenden Schichten des Stalagmiten bestimmt, in denen sich Feucht- und Trockenperioden widerspiegeln. Datieren lassen sich die Schichten dabei durch die Uran-Thorium-Methode – den zeitabhängigen Zerfall von radioaktiven Uranisotopen zu unlöslichem Thorium.
Geochemischer Hinweis auf Überschwemmungen
Aus den Ergebnissen ging hervor, dass sich das 6. Jahrhundert in Nord- und Zentralitalien durch ein deutlich höheres Feuchtigkeitsniveau von anderen Perioden unterschied. Dafür war wahrscheinlich ein atmosphärisches Phänomen im Bereich des Nordatlantiks verantwortlich, das häufige Wetterlagen bewirkte, die vermehrt feuchte Luft speziell nach Nord- und Mittelitalien brachten. Da das Wasser des Nordatlantiks eine höhere Konzentration an leichteren Sauerstoffisotopen aufweist als die „üblichen“ Niederschläge in Norditalien, hat diese „feuchte“ klimatische Veränderung eine deutliche isotopische Spur in den Schichten des untersuchten Stalagmiten hinterlassen, erklären die Forscher. Ihnen zufolge geht aus den Ergebnissen hervor, dass das 6. Jahrhundert in Nord- und Zentralitalien von ungewöhnlich starken Regenfällen und damit verbundenen Überschwemmungen geprägt war.
Genau dies spiegelte sich auch in den historischen Quellen wider, sagen die Wissenschaftler. Wie sie berichten, waren ihnen durch die „The Cult of Saints in Antiquity Database“ besonders viele antike und mittelalterliche Texte zugänglich. Sie analysierten die italienischen Schriften des sechsten Jahrhunderts dabei vor dem Hintergrund anderer spätantiker und frühmittelalterlicher Quellen. Bei den Vergleichen lag der spezielle Fokus auf den sogenannten hagiographischen Schriften – den Geschichten über Heilige und deren Wundertaten.
Ungewöhnliche Wundertaten
Wie sie berichten, fällt bei den italienischen Texten des 6. Jahrhunderts ein wiederkehrendes Motiv auf: Insbesondere die Schriftsammlung „Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum“, die Papst Gregor dem Großen (540 bis 604) zugeschrieben wird, enthält viele Beschreibungen von sogenannten Wasserwundern, bei denen Heilige starke Regenfälle, Stürme und Fluten hervorgerufen haben sowie anschließend beenden konnten. Beispielsweise lenkte der Heilige St. Fredianus der Überlieferung nach den Fluss Serchio in ein neues Flussbett um, sodass die Stadt Lucca nicht länger von Überschwemmungen bedroht war.
In hagiographischen Texten aus früheren und späteren Perioden sowie in zeitgenössischen Schriften aus dem Gebiet des heutigen Frankreichs wird hingegen kaum von Wasserwundern berichtet. In den italienischen Texten des Jahrhunderts am Ende der Antike machen sie hingegen bis zu 20 Prozent aller beschriebenen Wunder aus, heben die Wissenschaftler hervor. Sie interpretieren das plötzliche Auftreten dieser Berichte als ein Indiz für das besondere Interesse an hydroklimatischen Ereignissen in der Region. Den Grund sehen sie in der lokalen klimatischen Veränderung, die aus den Untersuchungen des Stalagmiten hervorgeht.
Diese Verknüpfung ist auch aus kulturell-historischer Sicht interessant, betonen die Forscher: Dass hydrologische und klimatische Ereignisse in italienischen Schriften des 6. Jh. erwähnt werden, weist darauf hin, dass diese Ereignisse eine Rolle im soziokulturellen Wandel spielten. „Die literarischen Quellen reflektieren die Weltsicht der kirchlichen Schreiber dieser Ära und die Grundlage für deren Interpretation von außergewöhnlichen Naturphänomenen“, sagt Co-Autor Robert Wiśniewski von der Universität Warschau. Es zeigt sich, wie die Übernahme lokaler Machtpositionen durch Bischöfe am Ende des 6. Jh. mit der Entwicklung eines Heiligenkults verbunden war, den ein Glaube an die christliche Macht über Krankheiten, Menschen und auch die Natur kennzeichnete. Der „hybride“ Ansatz der Studie hat somit Einblicke geliefert, wie die Gesellschaft damals auf Klimaveränderungen und Naturkatastrophen reagierte, resümieren die Forscher.
Quelle: Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Fachartikel: Climatic Change, doi: 10.1007/s10584-021-03043-x