Über die Awaren – ein Steppenvolk, das im Frühmittelalter in Europa lebte – ist bislang nur wenig bekannt. Anhand alter DNA aus Gräbern in Ungarn haben Wissenschaftler nun die Lebensweise dieser ursprünglich aus Zentralasien stammenden Gemeinschaften untersucht. Die Genome offenbaren die soziale Organisation und familiären Beziehungen der Awaren über mehrere Generationen hinweg. Was lässt sich daraus ableiten?
Vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert nach Christus, im frühen Mittelalter, beherrschte die Volksgruppe der Awaren weite Teile des östlichen Mitteleuropas. Die einstigen Nomaden kamen zwischen 567 und 568 nach Christus aus den Steppen Zentralasiens in das Karpatenbecken in Europa und wurden dort sesshaft, bis sie schließlich um 800 nach Christus von den Franken verdrängt wurden. Diese Informationen haben Archäologen aus Gräbern der Awaren und aus schriftlichen Berichten ihrer damaligen Nachbarvölker rekonstruiert. Dennoch sind noch viele Fragen über das Leben der Awaren offen.
Erbgut offenbart Familienbeziehungen der Awaren
Ein Forschungsteam um Guido Alberto Gnecchi-Ruscone vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist diesen Fragen nun nachgegangen. Um mehr über die Awaren zu erfahren, kombinierte das Team aus Genetikern, Archäologen, Anthropologen und Historikern verschiedene Methoden. Unter anderem bestimmten sie mit Isotopenanalysen das Alter der Gräber und untersuchten alte DNA (aDNA). Dafür sammelten sie alle menschlichen Überreste und Grabbeigaben von vier komplett ausgegrabenen Friedhöfen aus der Awarenzeit im heutigen Ungarn und analysierten das darin erhaltene Erbgut. Die Forschenden rekonstruierten so die Verwandtschaftsbeziehungen der Toten und erstellten damit detaillierte Stammbäume.
Die Analysen ergaben, dass viele der 424 dort begrabenen Personen miteinander verwandt waren. 298 der Toten hatten mindestens einen nahen Verwandten auf demselben Friedhof. Insgesamt gehörten die Überreste zu 31 verschiedenen Familien. Der größte dieser Stammbäume umfasste 146 Personen aus neun Generationen. Die familiären Beziehungen offenbarten, dass die Awaren ihre Gemeinschaften nach bestimmten Heiratsregeln aufbauten, vermutlich auch, um Inzucht zu vermeiden: Während Männer nach der Heirat in ihrer Kommune blieben, verließen Frauen diese, um fortan in der Gemeinschaft ihrer Ehemänner zu leben. Die Frauen verbanden so die einzelnen Gemeinschaften miteinander und förderten den Zusammenhalt dieser Gesellschaft, erklärt das Team.
Entnahme von Knochenproben: Probenvorbereitung für die aDNA-Analyse. © Institute of Archaeogenomics, HUN-REN REC, Budapest
Darüber hinaus zeugten Männer bei den Awaren im Laufe ihres Lebens oft Kinder mit verschiedenen Frauen und Frauen bekamen häufig Kinder von verschiedenen Männern, wie die Stammbäume zeigen. Dies konnten auch miteinander verwandte Männer sein – wie Brüder oder Vater und Sohn. Die Funde deuten darauf hin, dass die Awaren ein detailliertes Gedächtnis über ihre Vorfahren bewahrten, so die Wissenschaftler. Mit der lokalen Bevölkerung in Europa mischten sich die Awaren indes kaum. Diese sozialen Praktiken stehen im Einklang mit Erkenntnissen aus anderen historischen Quellen über eurasische Steppengesellschaften, wie Gnecchi-Ruscone und seine Kollegen berichten. Demnach lebten die Awaren in Europa weiterhin nach den hierarchischen Regeln ihrer Vorfahren zusammen.
Gesellschaftlicher Umbruch im siebten Jahrhundert
An einem der untersuchten Standorte konnten die Forschenden zudem aus den Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruieren, wie gegen Ende des siebten Jahrhunderts drei größere Familien zehn kleinere verdrängten. Dies deutet Gnecchi-Ruscone und seinen Kollegen zufolge auf eine damalige Machtverschiebung in dieser Region hin, wenngleich keine Beweise für einen gewaltvollen Übergang vorliegen. Der Auslöser lag offenbar eher in der veränderten Ernährungsweise der dortigen Gesellschaft, weg von Hirse hin zu Fleisch und Milchprodukten, wie die Isotopenanalysen nahelegen. „Dieser Austausch der Gemeinschaft spiegelt sowohl eine archäologische und ernährungsbedingte Verschiebung wider, die wir innerhalb der Stätte selbst entdeckt haben, als auch einen großflächigen archäologischen Übergang, der im gesamten Karpatenbecken stattfand“, sagt Koautorin Zsófia Rácz von der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.
Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, HistoGenes; Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-024-07312-4