Er war exzentrisch und „problematisch“ – doch war Kaiser Wilhelm II. tatsächlich auch psychisch gestört, wie ihm teilweise von Ärzten nachgesagt wurde? Diese Einschätzung besaß keine verlässliche Grundlage und war eher politisch motiviert, sagen nun zwei Medizinhistoriker. Ob der berühmt-berüchtigte Monarch tatsächlich psychopathologische Züge aufwies, bleibt ihnen zufolge unklar. Das Beispiel des deutschen Kaisers verdeutlicht, wie fragwürdig psychiatrische Ferndiagnosen vor politischen Hintergründen bis heute sind, so die Wissenschaftler.
„Der spinnt doch!“ Solche flapsigen Unmutsäußerungen über Politiker nehmen in manchen Fällen auch heute deutlich schärfere Züge an: Es wird hinterfragt, ob das politische Handeln von psychischen Erkrankungen beeinflusst sein könnte. Häufig werden diese Einschätzungen von Laien aus dem gegnerischen Lager abgegeben. Aber manchmal beteiligen sich auch medizinische Experten an den Diskussionen in den Medien und geben Ferndiagnosen ab. Wie das Beispiel Kaiser Wilhelm II. zeigt, war das auch schon vor mehr als 100 Jahren so, schreiben Florian Bruns von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Axel Karenberg von der Uniklinik Köln in einer aktuellen Veröffentlichung.
Fragwürdiger Geisteszustand
Wie sie berichten, wurde der Geisteszustand des Monarchen schon kurz nach seiner Krönung im Jahr 1888 infrage gestellt, denn sein exzentrisches Auftreten bot dafür durchaus Angriffsfläche. Es wurden sogar Vergleiche mit dem bayerischen König Ludwig II. hergestellt, der 1886 für geisteskrank und amtsunfähig erklärt worden war. Selbst Wilhelms eigener Vater, Friedrich III., warnte Otto von Bismarck vor der „mangelhaften Reife“ und „Selbstüberschätzung“ seines Sohnes. Und so gehörte auch der berühmte Reichskanzler zu den ersten, die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Monarchen in Umlauf brachten. Klar ist in diesem Zusammenhang: Bismarck und Wilhelm waren politische Gegner, was schließlich zur Entlassung des Reichskanzlers führte.
Den Höhepunkt erreichten die Spekulationen über den Geisteszustand des Kaisers allerdings erst nach seinem katastrophalen Scheitern: „Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie haben sich viele Ärzte dahingehend geäußert, dass Kaiser Wilhelm II. psychisch krank gewesen sein müsse. Sie attestierten ihm unter anderem eine manisch-depressive Erkrankung, eine ‚allgemeine Nervenschwäche‘ oder eine ‚angeborene psychische Entartung‘“, sagt Bruns.
Nur spekulative Ferndiagnosen
Dies waren allerdings fragwürdige Diagnosen, wie er und sein Kollege erklären. Denn keiner dieser Ärzte hatte Wilhelm II. jemals persönlich untersucht. „Es gibt nur wenige medizinische Aufzeichnungen über den Kaiser, das meiste sind allgemeine Zeitzeugnisse. Die Diagnosen sind daher letztlich Ferndiagnosen und somit Spekulationen“, so der Medizinhistoriker. Gut belegt ist allerdings, dass der Kaiser eine „schillernde, extrovertierte Persönlichkeit“ gewesen ist, berichten die Wissenschaftler. Darin haben manche Personen krankhafte Züge gesehen. Die Hinweise können jedoch nicht die Grundlage einer fundierten psychologischen Diagnose bilden, so das Fazit.
Bruns und Karenberg zufolge zeichnet sich hingegen ab, dass die diagnostischen Zuschreibungen vor allem den Gegnern Wilhelm II. als Mittel der politischen Auseinandersetzung dienten. Und von denen gab es viele – selbst in Monarchie-treuen Kreisen war die Verbitterung über das Scheitern groß. Es gab die Tendenz, alle Schuld an dem verlorenen Krieg auf die Person des Kaisers abzuschieben, der dann auch noch „feige“ ins holländische Exil geflüchtet war. Dadurch konnte man davon ablenken, dass auch Staat und Gesellschaft für den sinnlosen und verlustreichen Krieg Verantwortung getragen hatten, sagen Bruns und Karenberg.
„Das Beispiel Wilhelms II. zeigt, dass sich Expertise und Deutungsmacht der Psychiatrie Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Politik ausdehnten“, schreiben die Autoren. Denn wie sie betonen, war der Monarch nicht der einzige, bei dem öffentlich hinterfragt wurde, ob psychische Erkrankungen sein politisches Handeln beeinflussten. „Auch Revolutionäre wurden 1918 gerne für verrückt oder unzurechnungsfähig erklärt, um sie zu stigmatisieren. Die Pathologisierung diente als politische Waffe“, resümiert Bruns.
Abschließend betonen die Autoren, dass man Wilhelm II. natürlich auch nicht freisprechen kann: Ob der „problematische“ Kaiser unter einer bipolaren Störung gelitten hat oder nicht, lässt sich auf der Basis der Informationen schlicht nicht klären. Außerdem richten sie in diesem Zusammenhang ihren Blick auf die Gegenwart: Auch heute ist es ihnen zufolge wichtig, psychiatrische und politische Urteile klar voneinander zu trennen: „Die Ereignisse vor 100 Jahren sollten als Beispiel gesehen werden. Der politische Diskurs ist das eine, aber für eine tatsächliche Diagnose braucht es seriöse medizinische Untersuchungen“, so Bruns.
Quelle: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Fachartikel: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, doi: https://doi.org/10.1055/a-0942-9575