Ausradiertes wieder sichtbar gemacht: Auf einem im Mittelalter recycelten Pergament aus dem Katharinenkloster im Sinai hat eine Forscherin die ausradierten Spuren eines mythologischen Texts der Antike entdeckt, der bisher nur indirekt bekannt war. Er erzählt von der Kindheit des griechischen Gottes Dionysos. Wie der Fund verdeutlicht, wurde der heidnische Text offenbar noch in der schon christlich geprägten Spätantike kopiert, sagen die Wissenschaftler.
Sein Ursprung liegt in der Mitte des 6. Jahrhunderts: Das Katharinenkloster auf der ägyptischen Halbinsel Sinai ist eines der ältesten kontinuierlich genutzten Klöster der Welt. Durch seine isolierte Lage wurde es nie zerstört und so konnten in seinen Mauern historische Schätze die Zeit überdauern: In der Klosterbibliothek lagern mehrere tausend Manuskripte aus vielen Jahrhunderten. Bei einigen handelt es sich um doppelt spannende Exemplare – sogenannte Palimpseste. Es handelt sich um wiederverwertete Pergamente, die im Mittelalter neu beschriftet wurden, nachdem ältere Texte ausradiert worden waren. Im Rahmen des Sinai Palimpsests Project versuchen Wissenschaftler seit einigen Jahren, noch vorhandene Spuren der überschriebenen Texte durch moderne Technik wieder lesbar zu machen. Dabei sind ihnen bereits einige spannende Funde geglückt.
Verborgene Schrift taucht auf
Die neuste Entdeckung ist nun Giulia Rossetto von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zu verdanken. Sie hat sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit der Untersuchung eines fragmentarisch erhaltenen Pergaments befasst, das im 10. Jahrhundert von christlichen Mönchen neu beschriftet worden war. Mittels Multispektralfotografie und anschließender computergestützter Bildanalyse konnte Rossetto dem Manuskript schließlich seine Geheimnisse entlocken: Verborgene Schriftzeichen wurden sichtbar und so konnte die Wissenschaftlerin die ausradierte Schrift auf den Pergamentresten schließlich entziffern.
Wie die Österreichischen Akademie der Wissenschaften berichtet, erfüllte sich dabei ein altertumswissenschaftlicher Traum: Passagen eines verschollenen Texts der Antike zeichneten sich ab, der bis auf die Zeit Homers zurückgeht. „Es handelt sich um einen poetischen Text in Hexametern, also dem klassischen Versmaß der epischen Dichtung. Dieser entstammte einem Epos, das ursprünglich wahrscheinlich 24 Bücher umfasste, und dessen Existenz bisher nur indirekt belegt war“, sagt Rossetto.
Verschollene Dionysos-Geschichte
Inhaltlich geht es in dem entdeckten Text um den griechischen Weingott Dionysos und seine Widersacher, berichtet die Wissenschaftlerin: Es werden Spielzeug und Geschenke erwähnt, die von den Titanen eingesetzt werden, um den kindlichen Gott abzulenken. „Diese Details waren bisher nur aus der indirekten Überlieferung, also aus Zitaten in anderen Werken bekannt. Jetzt haben wir zum ersten Mal den Originaltext vorliegen, auf den diese Zitate zurückgehen“, sagt die wissenschaftliche Direktorin des Sinai Palimpsests Projects Claudia Rapp von der Universität Wien.
Wie die ÖAW berichtet, geht aus der Begutachtung des Schriftstils hervor, dass der später ausradierte antike Text im 5. oder 6. Jahrhundert in Ägypten kopiert worden war. „Kulturgeschichtlich ist diese Entdeckung von größtem Interesse, denn sie zeigt, dass damals in Ägypten noch ein aktives Interesse an religiösen Texten aus der heidnischen Antike bestand – also zu einer Zeit, als das Christentum dabei war, sich im Römischen Reich fest zu etablieren“, erklärt Rapp.
Später war das offensichtlich nicht mehr der Fall. Denn in den Jahrhunderten danach wurde der Text von dem Pergament getilgt, um das kostbare Material erneut verwenden zu können. Im frühen 10. Jahrhundert wurde es dann im christlichen Kloster Mar Saba in der Nähe von Jerusalem von arabisch-sprachigen Mönchen mit Lebensbeschreibungen von Heiligen neu beschrieben. Die Palimpseste waren somit eine Form des mittelalterlichen Recyclings, schreibt die ÖAW.
Quelle: Österreichische Akademie der Wissenschaften