Die Erbauer steinzeitlicher Siedlungen waren offenbar von einem Wahrnehmungsphänomen namens Pseudoneglect beeinflusst, berichten Archäologen: Im Vergleich zu bestehenden Häusern errichteten sie neue Bauten stets leicht nach links verdreht. Dieser Effekt könnte den Forschern zufolge zur Entwicklung eines neuen Nachweisverfahrens in der Archäologie führen: Anhand des leichten Linksdralls bei der Gebäudeausrichtung lassen sich möglicherweise Bauabfolgen alter Siedlungen auf einfache Weise einschätzen.
Sie beeinflussen unterbewusst unser Bild von der Welt oder unsere Verhaltensweisen: Zahlreiche Wahrnehmungsphänomene sind beim Menschen bekannt, die auf bestimmte Prozesse des Nervensystems oder unseres Verstandes zurückzuführen sind. Zu diesen Phänomenen gehört auch eine Neigung, die Wahrnehmungspsychologen als Pseudoneglect bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine Tendenz, eher der linken Seite mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der rechten. Dies führt etwa dazu, dass Menschen, wenn sie die Mitte einer Linie kennzeichnen sollen, häufiger links danebenliegen als rechts. Eine vergleichbare Linkslastigkeit ist darüber hinaus auch bei anderen räumlich-visuellen Aufgaben bekannt.
Seltsamer Linksdrall festgestellt
Wie die Forscher um Nils Müller-Scheeßel von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nun berichten, zeichnet sich dieses Phänomen offenbar auch in archäologischen Kontexten ab. Diese Erkenntnis basiert auf Untersuchungen von frühneolithischen Siedlungen in Mittel- und Osteuropa. Die Wissenschaftler untersuchten sie teilweise ohne den Spaten ansetzen zu müssen: Die Strukturen im Untergrund wurden durch geophysikalische Magnetmessungen erfasst. Dabei werden Unterschiede im Erdmagnetfeld dazu genutzt, um verborgen liegende archäologische Funde sichtbar zu machen.
Bei den Datenauswertungen fiel den Wissenschaftlern auf, dass die Orientierung neu gebauter Häuser in prähistorischen Siedlungen um einen kleinen Betrag von derjenigen bereits bestehender Bauwerke abwich. Offenbar folgte diese kaum merkliche Verdrehung zudem einer Regel: „Durch Altersbestimmungen mithilfe der Radiokarbonmethode konnten wir zeigen, dass die Neuerrichtung mit einer kaum wahrnehmbaren Drehung der Hausachse gegen den Uhrzeigersinn verbunden war“, sagt Müller-Scheeßel.
Die Signatur eines Wahrnehmungsphänomens
Nach Recherchen, was diesem Effekt zugrunde liegen könnte, kamen die Forscher zu dem Schluss: „Wir sehen Pseudoneglect als die wahrscheinlichste Ursache an“, sagt Müller-Scheeßel. „Seit langem geht man in der Forschung davon aus, dass die frühneolithischen Häuser ungefähr eine Generation – das heißt 30 bis 40 Jahre – gestanden haben und in regelmäßigen Abständen neue Häuser neben bereits bestehenden errichtet werden mussten“, sagt Müller-Scheeßel. Konkret zeichnet sich somit ab: Wenn die Erbauer neben einem alten Haus standen und ein neues planten, gaben sie ihm aufgrund des Pseudoneglect-Prinzips eine leicht nach links verdrehte Ausrichtung.
Wie die Wissenschaftler betonen, könnte es sich dabei um mehr als eine interessante Kuriosität handeln: Möglicherweise lassen sich die Erkenntnisse in ein archäologisches Werkzeug verwandeln. „In den letzten Jahren haben wir in unserem Arbeitsgebiet in der Südwestslowakei mit geophysikalischen Prospektionsmethoden Hunderte von frühneolithischen Häusern entdeckt. Diese Häuser alle auszugraben ist weder möglich noch aus denkmalpflegerischen Gründen überhaupt wünschenswert. Die Möglichkeit, über Pseudoneglect die Häuser ohne Ausgrabung in eine relative Abfolge zu bringen und damit das Siedlungsgeschehen einer ganzen Kleinregion aufzuschlüsseln, hebt unsere Forschung auf ein ganz neues Niveau“, sagt Müller-Scheeßel.
Der Blick richtete sich allerdings nicht nur auf steinzeitliche Strukturen: Den Forschern zufolge gibt es bereits Hinweise darauf, dass ähnliche Orientierungsveränderungen auch die Reste jüngerer Siedlungen prägen. Die Nutzung des Pseudoneglect-Phänomens könnte somit breites Potenzial in der Archäologie besitzen, meinen die Wissenschaftler.
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Fachartikel: PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0226082