“Luzia” ist eines der ältesten und bekanntesten Menschenfossilien Südamerikas – sie gilt auch als die “erste Brasilianerin”. Doch ihr Aussehen gab bisher Rätsel auf, denn einer Gesichtsrekonstruktion zufolge ähnelte sie eher einer Afrikanerin als einer Indianerin. Stammte sie womöglich von über das Meer eingewanderten Afrikanern ab? Diese Theorie haben nun Genanalysen von insgesamt 42 prähistorischen Überresten aus Südamerika entkräftet.
Die Besiedlungsgeschichte des amerikanischen Kontinents ist bis heute nur in Teilen geklärt. Gängiger Theorie nach kamen die ersten Menschen vor 20.000 bis 15.000 Jahren aus Asien über die Beringstraße ins arktische Nordamerika. Von dort aus zogen die ersten Uramerikaner Richtung Süden und spalteten sich dabei in verschiedene Populationen auf. Welche Gruppen jedoch wann entstanden und in welchen Routen und Wellen auch Südamerika besiedelt wurde, war kaum bekannt.
Enge Verwandtschaft mit Clovis-Menschen
Jetzt haben gleich mehrere Forscherteams in großangelegten Genstudien die DNA von mehr als 50 prähistorischen Toten aus Nord- und Südamerika analysiert und verglichen. Wissenschaftler um David Reich von der Harvard University konzentrierten sich dabei auf die Vorfahren der südamerikanischen Indianer und im Besonderen auf “Luzia” und ihre Zeitgenossen. Im Rahmen ihrer Analysen nahmen sie auch von der rätselhaften Ur-Brasilianierin DNA-Proben und verglichen sie mit Erbgut heutiger Indios, aber auch Volksgruppen außerhalb Südamerikas.
Das überraschende Resultat: “Eines der Hauptergebnisse unsere Studie war, dass Luzias Volk genetisch eng mit der Clovis-Kultur verwandt war”, berichtet Co-Autorin Tabita Hünemeier von der Universität Sao Paulo. Diese Jäger-und-Sammler-Kultur ist durch charakteristische Feuerstein-Speerspitzen gekennzeichnet und galt bisher als nur auf Nordamerika beschränkt. “Wir haben daher nicht erwartet, Verwandte der Clovis-Menschen in Südamerika zu finden”, so die Forscher. Doch ihre DNA-Analysen belegten eindeutige Übereinstimmungen zwischen frühen Clovis-Funden aus Montana und Toten aus Brasilien und Chile.
Keine afrikanischen Einwanderer
Für Luzia aber bedeutet dies: “Diese Ergebnisse widerlegen die Idee, dass es zwei biologische Wurzeln der Südamerikaner gibt, zwei Wellen von Einwanderern, von denen einige asiatische und andere afrikanische Züge mitbrachten”, konstatiert Hünemeier. “Stattdessen muss auch Luzias Volk auf eine Einwanderungswelle zurückgehen, die ihren Ursprung in Beringia hatte.” Trotz ihrer vermeintlich andersartigen Gesichtszüge hatte daher auch Luzia die gleichen eurasischen Wurzeln wie wahrscheinlich alle anderen Indianervorfahren auch.
Angesichts dieses Ergebnisses vermuten die Wissenschaftler, dass die Gesichtsrekonstruktion aus den 1990er Jahren nicht korrekt und wahrscheinlich durch falsche Vorannahmen verfälscht war. “Die Schädelform ist kein verlässlicher Marker für die biologische Herkunft oder den geografischen Ursprung”, betont Hünemeiers Kollege André Strauss. “Die Genetik ist eine bessere Basis für solche Rückschlüsse. Und die Gene zeigen eindeutig, dass es keine signifikante Verbindung zwischen Luzias Volk in Lagoa Santa und Gruppen aus Afrika oder Australien gab.”
Rätsel um australische Gene
Wie Luzia und ihr Volk tatsächlich aussahen, zeigt nun eine neue Rekonstruktion, durchgeführt von der forensischen Anthropologin Caroline Wilkinson. Sie hat einem der gemeinsam mit Luzia gefundenen Schädel ein Gesicht gegeben. “Diese neue Gesichtsrekonstruktion spiegelt die Physiognomie der ersten Bewohner Brasiliens weit besser wider als die frühere Version”, sagt Strauss. “Sie zeigen, dass Luzias Volk ganz klar Amerindisch war.”
Allerdings: Bei einigen der Überreste aus Lagoa Santa wiesen die Wissenschaftler Anteile von genetischem Material nach, das auffallend gut mit dem von Aborigines und Ureinwohnern Ozeaniens übereinstimmt. Seltsamerweise aber findet sich diese DNA-Signatur weder bei älteren noch bei jüngeren Vertretern prähistorischer Südamerikaner wieder. Wo diese Gene herkommen und warum sie nur in Lagoa Santa und nur zu dieser Zeit präsent sind, bleibt daher vorerst ein Rätsel.
Quelle: Fundação de Amparo à Pesquisa do Estado de São Paulo, Fachartikel: Cell, doi: 10.1016/j.cell.2018.10.027