Wer war einst mit wem verwandtschaftlich verbunden? Eine neue Methode zur Analyse alter DNA kann nun die Verknüpfungen von Menschen deutlich weitreichender aufzeigen als zuvor: Vom bisher möglichen dritten Verwandtschaftsgrad erweitert sich die Spanne bis auf den sechsten. Anhand von interessanten Beispielen konnten die Wissenschaftler bereits dokumentieren, wie sich mit dem Verfahren bisher unbekannte Verbindungen innerhalb und zwischen Menschengruppen aufdecken lassen.
Neben Schaufel, Pinsel und Co avancierte in den letzten Jahren auch immer mehr die moderne Genetik zu einem wichtigen Werkzeug bei der Erforschung der Menschheitsgeschichte: Überreste von Erbgut können interessante Informationen aus der Vergangenheit liefern. Anhand von Vergleichen alter DNA, die aus menschlichen Gebeinen gewonnen werden kann, lassen sich auch Abstammungsverhältnisse erkennen. Denn verwandte Menschen besitzen gleiche Abschnitte in ihrem Erbgut, die sie von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Doch im Vergleich zu „frischem“ Erbgut waren die Nachweismöglichkeiten dieser sogenannten IBD-Segmente (Identity by Descent) bisher begrenzt. Denn die jahrhunderte- oder jahrtausendealten Genome sind oft nur fragmentiert erhalten.
Raffiniert gefüllte Lücken
Doch nun ist es einem internationalen Forscherteam durch raffinierte Techniken der Verarbeitung von Genomdaten gelungen, Lücken in alten Genomen mit moderner Referenz-DNA aufzufüllen. Dadurch werden dann bisher verborgen gebliebene IBD-Segmente deutlich, wie das Team anhand von Referenzbeispielen belegen konnten. Unter der Bezeichnung „ancIBD“ präsentieren die Wissenschaftler das Verfahren nun als ein neues Instrument zur Analyse alter DNA-Daten.
„Indem wir Regionen im Genom, die Individuen miteinander gemein haben, bestimmen, können wir nun auch in alten Genomen Paare von Verwandten bis hin zum sechsten Grad aufspüren, während frühere Methoden nur Verwandte bis zum dritten Grad entdecken konnten“, resümiert Erst-Autor Yilei Huang vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Das bedeutet, es lassen sich bei historischen oder prähistorischen Menschen Verknüpfungen zwischen Cousins und Cousinen zweiten oder dritten Grades oder zu einem Ururururgroßelternteil aufzeigen.
In ihrer Studie präsentieren die Forscher auch bereits Anwendungsergebnisse ihrer neuen Methode. Sie analysierten mittels ancIBD einen Datensatz aus 4248 bereits veröffentlichten Genomen, die aus bis zu 50.000 Jahre alten menschlichen Überresten aus verschiedenen Teilen Eurasiens stammen. Wie sie berichten, identifizierte ancIBD tatsächlich viele zuvor unentdeckte Verwandten-Paare in den Genomdaten. Dabei zeichneten sich Verknüpfungen innerhalb von bestimmten Gruppen ab und auch Fernbeziehungen.
Interessante Verwandtschaftspaare identifiziert
In einem besonders markanten Fall identifizierten die Wissenschaftler zwei durch Verwandtschaft fünften Grades verbundene Personen, die vor etwa 5000 Jahren in Eurasien gelebt haben. Das Interessante war dabei: Ihre jeweiligen Gräber befanden sich rund 1500 Kilometer voneinander entfernt in der Mongolei und in Russland. In dem Ergebnis spiegelt sich somit die enorme Mobilität dieser Menschen oder ihrer nahen Vorfahren wider.
Wie das Team weiter berichtet, kann das Analysetool neben den familiären Verwandtschaftsbeziehungen auch Hinweise auf Verbindungen auf Populationsebene liefern: Anhand einer durchschnittlichen Rate ähnlicher DNA-Segmente kann es Vermischungen zwischen Menschengruppen aufzeigen, erklären die Forscher. „Wir sind dadurch spannenden neuen Verbindungen zwischen alten Kulturen auf die Spur gekommen – manchmal über weite Entfernungen und einen Zeitraum von nur wenigen hundert Jahren hinweg“, sagt Seniorautor Harald Ringbauer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Unter anderem entdeckten die Forscher etwa die Signatur eines Genflusses in Eurasien, der vor etwa 5000 Jahren begann. Europäer, die mit der Schnurkeramik-Kultur assoziiert werden, besaßen demnach eine biologische Verbindung mit den Jamnaja-Hirten der pontisch-kaspischen Steppe.
Die neue Methode zum Screening alter DNA könnte somit auf verschiedenen Ebenen Einblicke in die Menschheitsgeschichte liefern, resümieren die Wissenschaftler: Auf der Mikroebene, mit Fokus auf individuellen Lebenswegen, und auf der Makroebene, wenn es darum geht, bedeutende kulturhistorische Entwicklungen zu erforschen. Das Potenzial wird dabei auch immer größer, betonen die Forscher. Denn die archäogenetischen Datenmengen nehmen jedes Jahr gewaltig zu.
Quelle: Max-Planck-Gesellschaft, Fachartikel: Nature Genetics, doi: 10.1038/s41588-023-01582-w