Heute liegt das Gelände elf Meter unter den Wellen der Nordsee, doch vor 8000 Jahren bauten unsere Vorfahren hier möglicherweise schon Schiffe: Vor der britischen Isle of Wight haben Archäologen die Überreste einer mittelsteinzeitlichen Bootsbau-Werkstatt entdeckt. Hölzerne Plattformen und Balken, sowie Reste eines gedrehten Taus deuten darauf hin, dass es hier einst eine Art Werft gab. Zu dieser Zeit lag dieses Gebiet noch auf dem küstennahen Festland.
Als die letzte Eiszeit zu Ende ging, lag der Meeresspiegel der Nordsee noch deutlich tiefer als heute. Dadurch lagen weite Bereiche des heute überfluteten Meeresgrunds frei, darunter auch das Gebiet zwischen der Isle of Wight und dem britischen Festland. Im Jahr 1999 entdeckten Archäologen am Bouldnor Cliff rund einen Kilometer östlich der Stadt Yarmouth die Überreste einer mittelsteinzeitlichen Siedlung. Seither wurden dort mehr als tausend Feuerstein-Werkzeuge aus der Zeit vor rund 8000 Jahren entdeckt. Ein Stück weiter westlich stießen Forscher zudem auf Überreste bearbeiteter Holzbalken.
Plattform aus bearbeiteten Balken
Neue Funde liefern nun neue Einblicke in die Konstruktion und den Zweck dieser mesolithischen Relikte. Denn Archäologen des National Oceanography Centre (NOC) in Southampton haben gemeinsam mit Forschern des Maritime Archaeological Trust in diesem Jahr ein ganz neues Bauwerk aus Holz am Bouldnor Cliff entdeckt. Es besteht aus drei Schichten flacher, gepaltener und geglätteter Holzplanken, die auf runden, senkrecht zu dieser Auflage liegenden Holzbalken platziert waren. Dadurch entstand eine rund einen mal zwei Meter große Fläche, die offenbar einst noch deutlich länger war, wie Holzreste neben diesem Bauwerk belegen.
“Dieses Bauwerk scheint eine Art Plattform gewesen zu sein”, berichten die Forscher. “Sie bot den Menschen einen festen Untergrund inmitten des umgebenden Feuchtgebiets.” Die Archäologen vermuten aufgrund begleitender Funde wie einem gedrehten Tau, dass es sich hierbei um eine steinzeitliche Werft oder Bootsbau-Werkstatt gehandelt haben könnte. Insgesamt umfassen die neuen Funde 60 Balken und Planken, die deutliche Anzeichen der Bearbeitung zeigen. Allein die Zahl dieser bearbeiteten Holzteile verdoppele die Menge des bisher aus ganz Großbritannien bekannten bearbeiteten Holzes aus der Mittelsteinzeit, wie die Forscher berichten.
Erstaunlich fortgeschrittene Technologie
Die mit Steinäxten gespaltenen und geglätteten Balken, sowie Schnittmarken und Einkerbungen an der Plattform und anderen Holzrelikten sprechen für relativ weit fortgeschrittene Holzbearbeitungs-Fertigkeiten der Erbauer: “Dieser Fundort enthält eine Fülle von Belegen für technologische Fertigkeiten, deren Entwicklung man bisher erst einige tausend Jahre später erwartet hätte”, sagt Garry Momber, Leiter des Maritime Archaeological Trust. Die Archäologen vermuten, dass neolithische Einwanderer vom europäischen Festland diese mittelsteinzeitliche Population technisch vorangebracht haben könnten.
Bouldnor Cliff unterstreiche damit die Bedeutung der Unterwasser-Archäologie für das Verständnis der frühen Entwicklung unserer Zivilisation, konstatieren Momber und seine Kollegen. Doch die frisch am Meeresgrund entdeckten Artefakte sind bereits wieder bedroht. Denn die starken Strömungen in der Meerenge zwischen der Isle of Wight und der englischen Küste haben zwar diese steinzeitlichen Funde erst zutage gebracht. Gleichzeitig drohen sie aber die Relikte auch weiter zu erodieren und wegzuspülen.
“Die anhaltende Erosion bedeutet, dass wir dieses einzigartige Stück unserer Vergangenheit dokumentieren und bergen mussten oder aber es für immer verlieren”, heißt es im Fundbericht des Maritime Archaeological Trust. Die Unterwasser-Archäologen haben alle Fundstücke zunächst an Ort und Stelle photogrammetrisch vermessen und erfasst, bevor sie sie dann vom Meeresgrund hinaufbrachten. Sie werden nun in einem speziellen Wasserbecken aufbewahrt und nach und nach näher untersucht.
Quelle: National Oceanography Centre (NOC), Maritime Archeological Trust