Schon vor rund 6000 Jahren gab es am Rand der eurasischen Steppe erstaunlich große, bevölkerungsreiche Siedlungen. Jetzt könnten Forscher einen Faktor identifiziert haben, der diese Megasiedlungen für die Menschen der Jungsteinzeit so anziehend machte: In diesen Trypillia-Siedlungen herrschte eine vergleichsweise revolutionäre soziale Organisation. Sie war von geringen sozialen Unterschieden geprägt und erlaubte der Bevölkerung eine weitgehende Mitbestimmung.
In der Zeit zwischen 4200 und 3600 vor Christus existierten am Nordrand der pontischen Steppe sogenannte Trypillia – große, eng bebaute Großsiedlungen, in denen Menschen stadtähnlich dicht an dicht lebten. Die meisten von ihnen liegen im heutigen Gebiet Moldawiens, Rumäniens und der Ukraine. “Mit Flächen von bis zu 320 Hektar und rund 10.000 Einwohnern gehörten sie zu den größten prähistorischen Gemeinschaften Europas”, erklären Robert Hofmann von der Universität Kiel und seine Kollegen. Die Menschen in diesen Megasiedlungen betrieben Landwirtschaft und bauten Getreide und Hülsenfrüchte an, hielten aber auch Rinder und anderes Nutzvieh. “Die Megastätten der Trypillia repräsentieren damit eine Form der agrarischen Agglomeration, die als alternatives Konzept des Urbanismus gilt”, so die Forscher.
Was brachte die Menschen in diese Siedlungen?
Doch wie kamen diese Megasiedlungen der Steinzeit zustande? Was brachte die Menschen damals dazu, sich auf so engem Raum gemeinsam niederzulassen? “Unserer Ansicht nach spielt die soziale Struktur eine entscheidende Rolle für den Aufstieg und Niedergang dieser Megastätten”, sagen Hofmann und seine Kollegen. Demnach könnte eine für damalige Zeit neue Form der Gesellschaftsordnung die Menschen dazu gebracht haben, sich einer dieser Megasiedlungen anzuschließen. Attraktiv könnte beispielsweise ein kommunales System gewesen sein, durch das Lebensmittel in der Bevölkerung geteilt wurden. Gerade ärmeren Familien und Gruppen hätte dies ein Überleben auch in härteren Zeiten ermöglicht.
Auch eine Mitbestimmung bei kommunalen Entscheidungen könnte eine Rolle gespielt haben. „Wir gehen davon aus, dass eine neuartige soziale Organisation der Megastätten es der Bevölkerung ermöglichte, sich aktiv an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen“, erläutert Hofmann. Ein solcher reformerischer Charakter könnte der Auslöser für die enorme Attraktivität dieser Siedlungen gewesen sein, in deren Folge sich eine große Zahl von Menschen diesen Gemeinschaften anschloss.
Gini-Index verrät prähistorische Gesellschaftsstruktur
Ob es Hinweise auf eine relativ gleichberechtigte Organisation der Megasiedlungen gab, haben Hofmann und sein Team nun mithilfe des sogenannten Gini-Indexes in 38 Trypillia-Siedlungen untersucht. Dieser nutzt die Unterschiede in den Haushaltsgrößen einer Stadt oder eines Ortes als Anhaltspunkt für die soziale Ungleichheit. “Vor allem in agrarischen und pastoralischen Gesellschaften sind die Haushaltsgrößen mit dem materiellen Wohlstand verknüpft”, erklären die Wissenschaftler. “Die Größe der Wohneinheiten und die Qualität der Konstruktionen reflektiert die Fähigkeit der Haushalte, Materialien und Arbeitskräfte für den Bau zu mobilisieren.” Ein Gini-Wert von 1 bedeutet dabei, dass der gesamte Wohlstand einer Gemeinschaft bei nur einem Individuum konzentriert ist, ein Wert von Null spiegelt eine komplett gleichmäßige Verteilung des Wohlstands wider.
Das Ergebnis: In der Frühphase der Trypillia-Megasiedlungen zwischen 4300 und 3800 vor Christus lag der Gini-Index zwischen 0,25 und 0,2. Dies zeigt eine nur geringe Variabilität der Hausgrößen und spricht dafür, dass in den Trypillia-Megasiedlungen in dieser Zeit nur eine geringe soziale Ungleichheit herrschte. Erst in der späten Phase der Megasiedlungen steigt die soziale Ungleichheit wieder an und erreicht ihren Höhepunkt nach dem Niedergang der Siedlungen um 3600 vor Christus. „Diese Entwicklung legt nahe, dass es in den Trypillia-Gemeinschaften anfangs wirksame Mechanismen zur Vermeidung sozialer Ungleichheit gegeben haben muss“, sagt Seniorautor Johannes Müller von der Universität Kiel.
Die spätere Entwicklung von Unterschieden in den Hausgrößen lässt jedoch vermuten, dass sich die Möglichkeit der Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen im Laufe der Zeit immer mehr verschlechterte und die ursprünglichen egalitären Prinzipien der Siedlungsgründer nach und nach aufgegeben wurden. „Unserer Meinung nach war dies ein entscheidender Faktor für das spätere allmähliche Verschwinden der großen Megasiedlungen,“ sagt Hofmann. “Die Entstehung und der Zerfall beruhten auf demokratisch getroffenen politischen Entscheidungen der Individuen und Gemeinschaften, die in diesen riesigen Siedlungen lebten und sich schließlich entschlossen, sie zu verlassen.“
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Fachartikel: Antiquity, doi: 10.15184/aqy.2024.18