Wie viele Orte hatte auch Quedlinburg einst eine Richtstätte, auf der Verurteilte gehängt oder auf andere Weise hingerichtet wurden. Ausgrabungen auf dem alten Galgenberg enthüllen nun die Überreste einiger Hinrichtungsopfer aus der Zeit vor rund 200 bis 300 Jahren– sowie einige ungewöhnliche Funde. Darunter ist ein Toter in einem Sarg, der wahrscheinlich kein Verurteilter war. Das Skelett eines Menschen mit schweren Steinen auf der Brust könnte hingegen die Angst vor “Wiedergängern” widerspiegeln.
Im Mittelalter waren Todesstrafen für schwere Delikte keine Seltenheit und fanden in aller Öffentlichkeit statt. Meist wurden die Verurteilten dafür zu einem speziellen Richtplatz gebracht, der etwas außerhalb des Ortes lag – aber für Schaulustige dennoch gut zu erreichen war. Nach der Hinrichtung – oft durch Hängen am Galgen – wurden die Toten häufig direkt vor Ort verscharrt, weil sie nicht in der geweihten Erde der Friedhöfe bestattet werden durften. Die Untersuchung von Richtstätten und den in ihrem Umfeld begrabenen Toten kann daher bemerkenswerte Einblicke in die Strafpraxis des Mittelalters und der frühen Neuzeit liefern.
Auch die mehr als tausend Jahre alte Stadt Quedlinburg in Sachsen-Anhalt – Teil des UNESCO Weltkulturerbes – besaß einst eine solche Richtstätte. Ab 1662 lag sie auf dem sogenannten Galgenberg, einem Hügel nordöstlich der Stadt. Historischen Aufzeichnungen zufolge stand dort ein Galgen, der erst 1809 nicht mehr genutzt und abgebaut wurde. Bereits zuvor hatten Archäologen des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt dort die Gebeine von Toten aufgedeckt. Deshalb wurden die Ausgrabungen auf dem Quedlinburger Galgenberg in diesem und letzten Jahr intensiviert. Dabei machten die Archäologen um Grabungsleiterin Marita Genesis weitere Funde.
Knochengrube mit den Gebeinen Hingerichteter
Zu den neueren Funden gehören zwei Knochengruben, in denen die Gebeine mehrerer Toter wahllos nebeneinander und aufeinander gestapelt in mehreren Schichten übereinander lagen. Wie die Archäologen erklären, wurden die durch die ‘Hinrichtung oder Verwesungsprozesse abgetrennten Körperteile der Gehängten oder Geräderten von den Henkern und ihren Helfern beim “Aufräumen” des Richtplatzes in solche Gruben geworfen. Wie viele Hinrichtungsopfer in den beiden Knochengruben in Quedlinburg landeten und um wen es sich dabei handelte, können die Archäologen aber nur schwer ermitteln.
“Ich kann nicht sagen, dieser Oberschenkel gehört zu diesem Schädel. Ich kann aber sagen: Ich habe hier in dieser Grube 16 rechte Oberschenkelknochen, daher muss es sich um mindestens 16 verschiedene Individuen handeln”, sagte der Anthropologe Jörg Orchiedt gegenüber dem MDR. Neben menschlichen Überresten wurden auch Kleidungsreste, wie Knöpfe und Schnallen, sowie Keramikfragmente in den Gruben gefunden. Dies könnte nach Angaben der Archäologen darauf hindeuten, dass die in Quedlinburg hingerichteten Menschen dabei ihre eigene Kleidung tragen durften. Das sei eher unüblich, weil die Hingerichteten meist möglichst unehrenhaft und würdelos zu Tode gebracht werden sollten.
Selbstmörder und Wiedergänger
Noch ungewöhnlicher ist jedoch der Fund eines Sarges mit einem sorgsam hineingebetteten Toten auf der Quedlinburger Richtstätte. Das im Sarg auf dem Rücken liegende Skelett mit im Bauchbereich gefalteten Händen war sehr gut erhalten. Darüber hinaus wurde dem Toten eine Rosenkranzkette mitgegeben – dies zeugt von einer für eine Richtstätte ungewöhnlich würdevollen Bestattung. “In diesen Särgen, von denen es sehr wenige auf Richtstätten gibt, sind möglicherweise Selbstmörder bestattet worden”, erklärt Marita Genesis. Denn wer damals den Freitod wählte, galt nach christlichem Dogma als Sünder und durfte nicht in der geweihten Erde der Friedhöfe bestattet werden. Das könnte erklären, warum diese Person zwar mit einem normalen Sarg, aber in der eher unrühmlichen Umgebung des Richtplatzes beerdigt wurde.
Ebenfalls außergewöhnlich ist der Fund eines Toten, der auf dem Rücken liegend mit schweren Steinen auf der Brust begraben wurde. Die Archäologen vermuten, dass es sich dabei um ein sogenanntes “Wiedergängergrab” handeln könnte. Als solche potenziellen wandelnden Toten galten bis in die Neuzeit Menschen, die beispielsweise auf besonders grausame Weise oder ungetauft gestorben waren. “Manchmal heißt es in den historischen Quellen: Sie gehen um, bis ihre Zeit gekommen ist”, erklärt Genesis im MDR. “Um dem vorzubeugen, wurden manche Menschen mit diesen Steinen beschwert.”
Aufgrund der zahlreichen Befunde und Funde werden die Untersuchungen auch in diesem Jahr durch das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt weitergeführt und intensiviert.
Quelle: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt