Auch knapp 35 Jahre nach dem Ende der DDR sind die körperlichen und seelischen Wunden nicht verheilt, wie ein großangelegtes Forschungsprojekt aufzeigt. Demnach leiden viele vom SED-Regime politisch Verfolgte bis heute an den psychischen Folgen ihrer Erfahrungen. Andere müssen sich mit den gesundheitlichen Folgen von damals mit Hepatitis verseuchten Vitamin-D-Spritzen oder dem erzwungenen Doping im Leistungssport auseinandersetzen. Problematisch auch: Viele Betroffene erfahren auch heute noch Ausgrenzung und Diskriminierung.
Auch wenn einige Menschen die DDR im Nachhinein verklären: Für viele Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR war die Zeit des SED-Regimes alles andere als idyllisch oder leicht – im Gegenteil. Menschen, die dem DDR-System kritisch gegenüberstanden oder aus religiösen Gründen nicht auf der Linie der SED und der Parteiregeln lagen, wurden diskriminiert, ausgegrenzt und stigmatisiert. Im Extremfall brachten unliebsame Aktivität oder direkter Widerstand gegen staatliche Vorschriften und Maßnahmen die Betroffenen ins Gefängnis.
Doch auch in anderen Bereichen haben Menschen in der DDR traumatische Erfahrungen durchlebt. So erhielten 1978/79 tausende schwangere Frauen im Rahmen der staatlichen Gesundheitsvorsorge eine Spritze zur Vermeidung eines Vitamin-D-Mangels. Später stellte sich jedoch heraus, dass diese Spritzen mit dem Hepatitis-C-Virus versucht waren. Als Folge erkrankten viele Frauen an dieser leberschädigen Infektion. Ebenfalls traumatisch waren die Erfahrungen, die viele teils minderjährige Leistungssportlerinnen in der DDR machten. Viele erhielten ohne es zu wissen Dopingpräparate oder wurden von ihren Trainern zum Doping gedrängt.
“Auch heute noch schweres Leid”
Welche Folgen diese und weitere Erfahrungen bis heute bei den Betroffenen haben, hat ein großangelegtes interdisziplinäres Forschungsprogramm in den letzten drei Jahren untersucht. Dabei befragten und untersuchten Wissenschaftler der vier Universitätskliniken Jena, Leipzig, Magdeburg und Rostock in zwölf Teilprojekten verschiedene Betroffenengruppen, darunter Opfer politischer Verfolgung und Ausgrenzung, Frauen, die Hepatitis-C-kontaminierte Spritzen erhalten hatten, und zwangsgedopte Leistungssportlerinnen und Leistungssportler. Erfasst wurden dabei verschiedene psychische und körperliche Folgen.
Das Ergebnis: „Unsere Forschungsergebnisse belegen, dass die gesundheitlichen Langzeitfolgen von SED-Unrecht auch heute schweres Leid verursachen”, berichtet Jörg Frommer von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. “Das betrifft nicht nur ehemals politisch Inhaftierte, die um Wiedergutmachung kämpfen, oft vergeblich und in sich jahrelang hinziehenden Verfahren. Auch Opfer von Schädigungen im Gesundheitswesen, zum Beispiel durch Hepatitisvirus-verseuchte Spritzen, leiden bis heute.”
Spätfolgen bei politischen Opfern der Repression
So weisen viele Betroffene politischer Verfolgung und Stigmatisierung auch knapp 35 Jahre nach der Wende noch eine hohe Rate psychischer Störungen auf und reagieren in Stresssituationen körperlich wie emotional stärker als ihre Zeitgenossen. Dies wiederum macht sie anfälliger für psychische und körperliche Erkrankungen, die durch chronischen Stress begünstigt werden. Viele Opfer solcher Repressionen weisen eine hohe Rate für spezifische psychische Störungen wie Angst, affektive und dissoziative Störungen auf. Hinzu kommt, dass viele Opfer des SED-Regimes bis heute Nachteile erfahren: „Die Geschichten der Opfer von SED-Unrecht sind verstörend. Viele erfahren auch heute noch Ausgrenzung, oft bedingt durch die bürokratischen Strukturen, denen sie ausgesetzt sind“, sagt Georg Schomerus von der Universität Leipzig.
Dies gilt oft auch dann, wenn Betroffene medizinische Hilfe suchen: „Menschen mit SED-Unrechtserfahrung werden tatsächlich von Mitarbeitern im Gesundheitssystem häufig negativer gesehen als Menschen ohne solche Erfahrungen. Hier muss eine Sensibilisierung für die Bedarfe dieser Gruppe erfolgen“, betont Schomerus. Passend dazu berichteten ehemalige Haftopfer im Rahmen der Beantragung von SED-Unrechts-Entschädigungsverfahren von Befragungsmethoden, durch die sie retraumatisiert wurden, ohne adäquate psychologische Hilfe zu erhalten. Auch beim Zugang zu anderen Sozial- und Gesundheitsleistungen haben es Betroffenen häufig besonders schwer, wie die Untersuchungen ergaben.
Hepatitis-C und Zwangsdoping
Ähnliches berichteten Betroffene der Hepatitis-C-kontaminierten Anti-D-Prophylaxe. Bei vielen Frauen führte die dadurch verursachte Hepatitis-Infektion nicht nur zu schleichenden Schäden an der Leber, weil die Krankheit zu spät erkannt wurde. Auch seelische und psychische Leiden trugen dazu bei, dass viele Betroffenen sich aus dem sozialen Leben zurückzogen und bis heute unter anhaltender Frustration, Verzweiflung und Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen leiden. Zwar wurden die meisten Frauen inzwischen mit Medikamenten behandelt, die die Hepatitis-C-Viren beseitigt haben. Viele leiden jedoch unter den Spätfolgen – nicht zuletzt auch finanzieller Natur durch langjährige Fehlzeiten und Arbeitsausfälle. Deswegen wurde im Jahr 2000 eine Entschädigungszahlung für die Betroffenen eingeführt.
Anhaltende Traumata und Gesundheitsschäden haben auch viele Personen davongetragen, die als Jugendliche im Leistungssport der DDR eingebunden waren. Denn das auf maximalen Erfolg getrimmte System des staatlich kontrollierten Sports nutzte neben hohem Leistungsdruck bis zum Machtmissbrauch auch Doping – oft ohne Wissen der minderjährigen Athletinnen und Athleten. Teilweise war die Einnahme der Dopingpräparate auch Zwang. Bei Betroffenen dieser Gruppe stellten die Forschenden eine Anzahl von depressiven, Angst- und chronischen Schmerzstörungen fest, die um ein Vielfaches über den Raten in der Allgemeinbevölkerung lagen. Nur bei einer sehr kleinen Minderheit von rund zwei Prozent wurde überhaupt keine psychische Störung im Lebensverlauf diagnostiziert.
“Noch viel Unkenntnis über die DDR und die Praktiken der SED”
„Die Untersuchungen des Verbundprojektes belegen, dass die Folgen des SED-Unrechts auch heute
noch sichtbar sind und bestimmte Opfergruppen auch heute noch Auffälligkeiten im Hinblick auf die Stressreaktion zeigen. Diese wiederum gelten Risikofaktor für die Entwicklung psychischer, aber auch körperliche Störungen”, sagt Projektkoordinator Bernhard Strauß vom Universitätsklinikum Jena. Das Team sieht zudem erheblichen Nachholbedarf darin, wie das heutige Gesundheitssystem mit den Betroffenen umgeht. „Im Zusammenhang mit Hilfsangeboten in Beratung und Rehabilitierungsverfahren zeigt sich, dass trotz einer guten Struktur von Angeboten, die es in den neuen Bundesländern gibt, noch viel Unkenntnis über die DDR und die Praktiken der SED herrscht, die es gilt, in zukünftigen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen gezielt zu beheben.“
Quelle: Universität Leipzig, Universitätsklinikum Jena; Publikation: Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht