In der 2019 bei einem Brand beschädigten Kathedrale von Notre-Dame in Paris haben französische Forscher Eisenklammern entdeckt, die die Steine in verschiedenen Teilen des Bauwerks zusammenhalten. Datierungen und metallurgische Analysen enthüllen, dass diese Eisenarmierungen schon aus der ersten Bauphase der Kirche im 12. Jahrhundert stammen. Dies macht Notre Dame zum weltweit ältesten Kirchenbau mit einer solchen Eisenverstärkung – und erklärt, warum ihr Kirchenschiff eine für ihre Zeit einzigartige Höhe erreichen könnte.
Die Kathedrale Notre-Dame de Paris ist eines der berühmtesten Werke frühgotischer Baukunst und ein Weltkulturerbe. Der fünfschiffige Kirchenbau besticht nicht nur durch seine enorme Größe und kunstvollen Gewölbe. Als die Kathedrale im Jahr 1163 gebaut wurde, war sie mit ihrem mehr als 32 Meter hohen Kirchenschiff auch das höchste Gebäude der damaligen Zeit. “Bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts – zwei bis drei Generationen von Baumeistern später – wurde kein vergleichbares Gebäude gebaut”, erklären Maxime L’Héritier von der Universität Paris 8 und seine Kollegen. Erst die zu dieser späteren Zeit errichteten Kathedralen von Chartres, Reims, Amiens oder Bourges übertrafen Notre Dame erstmals an Höhe.
Was machte die Kathedrale stabil?
“Die enorme Höhe von Notre-Dame wurde erst möglich durch die Kombination mehrerer innovativer technischer Prozeduren, die der erste Architekt von Notre-Dame entwickelte”, erklären L’Héritier und seine Team. Dazu gehörte der fünfschiffige Grundriss, das Kreuzrippengewölbe mit besonders dünnen Verstrebungen und die offenen, ebenfalls relativ dünnen Strebebögen an der Außenseite des Hochschiffs, die die Last des Bauwerks von den Wänden ableiten. Aber war das schon alles? Spätere Kathedralen nutzten zusätzlich zu Stein und Holzkonstruktionen auch Eisenarmierungen, um die Gebäude zu stabilisieren.
Ob solche Armierungen aber schon im ursprünglichen Bau von Notre-Dame verwendet wurden, blieb bisher unklar. Zwar gibt es einige Eisenverstrebungen, von ihnen nahm man aber an, dass sie erst im 19. Jahrhundert im Rahmen von Restaurierungsarbeiten eingebaut wurden. Große Teile im oberen Bereich des Bauwerks waren zudem für genauere Untersuchungen nicht zugänglich. Doch im April 2019 fing der Dachstuhl der Kathedrale Feuer und das komplette Dach des Bauwerks wurde zerstört. Auch der Vierungsturm brach zusammen und das Gewölbe des Hauptschiffs wurde an mehreren Stellen beschädigt.
Eisenklammern fast überall
Für L’Héritier und sein Team boten die direkt nach dem Brand in der Kathedrale aufgebauten Gerüste erstmals die Chance, die oberen Regionen des Kirchenbaus genauer zu inspizieren – und auch, dort nach Eisenarmierungen zu suchen. Tatsächlich wurden die Forscher fündig: “Unsere Untersuchungen zeigen, dass Eisenklammern auf verschiedenen Ebenen der Struktur von Notre-Dame eingesetzt wurden”, berichten die Wissenschaftler. Im oberen Bereich des Kirchenschiffs verbinden diese Klammern die Pfeiler entlang der Kapellenwände mit den Wänden, außerdem finden sich solche Eisenklammern am Boden der Emporen, auf der Oberseite der Bögen zwischen dem Hauptschiff und den Seitenschiffen sowie den Chorumgängen.
“Die Zahl dieser Eisenklammern kann allein im Hauptschiff und Chor auf 300 bis 400 geschätzt werden”, berichten L’Héritier und seine Kollegen. Die Länge der aus rechteckigen Eisenstäben gefertigten Klammern variiert je nach Einsatzgebiet zwischen 25 Zentimeter und einem knappen Meter. Um diese Armierungen datieren zu können, entnahmen die Forscher Proben von zwölf Klammern und unterzogen sie einer Radiokarbondatierung sowie einer metallurgischen Analyse. Diese ergaben unter anderem, dass das Metall zahlreiche Einschlüsse von Schlacken enthielt, wie es für die mittelalterliche Eisenherstellung üblich war. Kombiniert mit der Lage der Klammern stützt dies die Datierung des Materials auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts.
Älteste Eisenarmierung in einem gotischen Bauwerk
“Damit sind diese Reihen von Eisenklammern das bisher früheste Beispiel für Eisenarmierungen beim Bau eines gotischen Monuments”, schreiben L’Héritier und seine Kollegen. “Notre-Dame de Paris war unzweifelhaft die erste gotische Kathedrale, bei der Eisen von vornherein als Baumaterial eingeplant und verwendet wurde”, erklären sie. “Während die meisten andern Kirchenbauten dieser Zeit noch Holz als Verstärkung nutzten, wählte der erste Baumeister der Kathedrale ein gewagtes System aus einem haltbareren Material, das auch leichter verborgen werden konnte. Dies ermöglichte es ihm, eine ganz neue Art der Architektur zu erschaffen.”
Quelle: PLOS, Fachartikel: PLoS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0280945