Vor der niederländischen Küste haben Archäologen eine 50.000 Jahre alte, mit Birkenpech geklebte Feuersteinklinge entdeckt. Ihre Machart und die Zusammensetzung des Pechs deuten darauf hin, dass die Neandertaler dieses Pech bereits mit einer mehrschrittigen, ertragreichen Methode herstellten. Dies stützt die Annahme, dass die Neandertaler schon komplexe Technologien nutzten – und das sogar am äußersten nördlichen Rand ihres Verbreitungsgebiets.
Lange galt der Neandertaler als „dummer Vetter“ des Homo sapiens. Doch inzwischen haben archäologische Funde dies längst als Irrtum und unbegründetes Vorurteil widerlegt. So nutzte der Homo neanderthalensis bereits das Feuer, stellte einfache Schmuckstücke her und könnte sogar erste Höhlenkunst erschaffen haben. Zudem verwendete diese Menschenart nicht nur einfache Faustkeile, sondern auch spezialisierte Knochenwerkzeuge und Holzspeere.
Streit ums Birkenpech
Jüngste Funde deuten darauf hin, dass die Neandertaler ihre Klingen und Spitzen aus Feuerstein manchmal sogar schon mit einem speziellen Kleber an hölzernen oder knöchernen Schäften befestigten. Dadurch schufen sie bereits zusammengesetzte Waffen und Werkzeuge. Die dabei verwendeten Klebstoffe bestanden teils aus einer Mischung aus Baumharz und Bienenwachs, teils aber auch aus Birkenpech. Bisher allerdings ist strittig, mit welcher Methode die Neandertaler ihr Birkenpech herstellten und wie komplex folglich ihre Klebtechnologie war. Denn das klebrige schwarze Pech entsteht einerseits, wenn Birkenrinde unter Luftabschluss beispielweise in Gruben oder Lehmbehältern erhitzt wird. Andererseits kann es sich aber auch durch simples Verbrennen der Rinde auf steiniger Oberfläche absetzen, wie jüngst eine Studie belegte.
Jetzt werfen Funde aus der Nordsee ein neues Licht auf die technischen Fertigkeiten unserer Eiszeit-Vettern. Am Strand von Zandmotor in der Nähe von Den Haag haben Marcel Niekus von der Stiftung für Steinzeitforschung in Groningen und seine Kollegen mehrere prähistorische Feuersteinklingen entdeckt. Sie lagen in Sand, der bei Küstenschutzmaßnahmen von der vor der Küste liegenden Sandbank ans Ufer gepumpt worden war. Datierungen ergaben, dass diese Werkzeuge rund 50.000 Jahre alt sind und damit aus der Zeit der Neandertaler stammen.
Klingenfund mit Pechkleber
Eine dieser Feuerstein-Klingen wies eine Besonderheit auf: An einer Seite war sie in eine schwarze Masse eingebettet, die sich bei näherer Untersuchung als Birkenpech herausstellte. Die Archäologen gehen davon aus, dass diese Klinge damit eines der bisher erst wenigen bekannten Beispiele für ein geklebtes Neandertaler-Werkzeug darstellt. “Die Rarität von Kleberfunden aus der Mittleren Altsteinzeit macht jede neue Entdeckung entscheidend, denn sie kann unser Verständnis der Neandertaler-Lebensweise verbessern”, sagen Niekus und seine Kollegen. Deshalb haben sie das prähistorische Birkenpech einer näheren Analyse unterzogen und dabei vor allem nach Hinweisen auf die Herstellungsmethode gesucht.
Mit Erfolg: Die chemische Zusammensetzung des Birkenpech-Klebers aus Zandmotor deutet darauf hin, dass das Pech bei relativ hohen Temperaturen erzeugt wurde. “Basierend auf der Menge an Betulin und Lupeol sowie dem Fehlen von Degradierungsmarkern könnte das Zandmotor-Pech bei 350 bis 400 Grad hergestellt worden sein”, berichten die Forscher. Ihrer Ansicht nach spricht dies eher für eine der komplexeren, mehrschrittigen Verfahren zur Herstellung dieses Klebers. Weitere Indizien dafür lieferten auch Vergleiche mit Birkenpech, das die Wissenschaftler mithilfe der verschiedenen prähistorischen Methoden neu erzeugten. Demnach entsprechen auch die Menge und Art der Verunreinigungen eher einer komplexeren Herstellungsmethode. “Zwar könnte man die Pechmenge, die wir in Zandmotor gefunden haben, mit jeder der Methoden produzieren, aber die einfachen Verfahren würden erheblich mehr Zeit und Aufwand erfordern”, konstatieren Niekus und seine Kollegen. Im Extremfall hätten die Neandertaler dafür 40-mal so viel Birkenrinde und die zehnfache Zeit benötigt.
Nach Ansicht der Wissenschaftler ist ihr Fund damit ein weiterer Beleg dafür, dass die Neandertaler schon komplexere Werkzeuge und Techniken nutzten – und dies sogar am nördlichsten Rand ihres Verbreitungsgebiets. Möglicherweise waren die harten Bedingungen in der damals sehr kalten Nordseeregion sogar die Triebkraft für die Entwicklung neuer Technologien: “Unser Fund stützt die Hypothese, dass technologische Komplexität oft eingesetzt wurde, um ökologische Risiken auszugleichen”, erklären Niekus und seine Kollegen.
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), doi: 10.1073/pnas.1907828116