Der Louvre in Paris und die National Gallery in London versprechen eine Sensation: Zwei Versionen eines Gemäldes aus der Hand des berühmten Renaissance-Universalgenies Leonardo Da Vinci – im deutschen Sprachgebrauch unter dem Titel „Felsgrottenmadonna“ (La Vergine delle Rocce) bekannt – werden nun im Rahmen einer Kooperation der beiden Museen erstmals zusammen in London gezeigt. Die Gemälde, die die Jungfrau Maria, das Jesus-Kind, den kleinen Johannes und einen Engel vor einer Felsgrotte darstellen, sind in unterschiedlichen Zeiträumen entstanden und repräsentieren zwei Schaffensphasen des italienischen Künstlers.
Die ältere Variante wurde zwischen 1483 und 1486 als Auftragswerk der Mailänder „Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis“ für die Franziskanerkirche San Francesco Grande angefertigt. Die „Felsgrottenmadonna“ sollte zusammen mit einem Ensemble musizierender Engel Bestandteil eines Altars werden, der zwischen 1480 und 1482 von Giacamo del Maino geschaffen wurde. An der Gesamtkonzeption des Kooperationswerks waren neben Leonardo da Vinci auch zwei lokale Künstler, die Halbbrüder Ambrogio und Evangelista de’ Predis, beteiligt. Eine Auseinandersetzung zwischen da Vinci und dem Auftraggeber über die Bezahlung ließ das Werk jedoch unvollendet. Nachdem auch der mailändische Herzog Ludovico Maria Sforza Il Moro keine Lösung herbei führen konnte, gelangte das Gemälde schließlich über den Umweg eines unbekannten Dritten an den französischen Hof.
Die erste Version der „Felsgrottenmadonna“ zeugt von einem intensiven Studium der Natur und gilt in der Kunstgeschichte als erste Landschaftsdarstellung dieser Art. Von 1491 bis 1508 arbeitete der Meister an einer zweiten Fassung der Felsgrottenmadonna – in unregelmäßigen Intervallen, denn Uneinigkeiten über den Preis verzögerten die Arbeit erneut. Die zweite Fassung, die heller gestaltet ist und mit ausgefeilten Licht-Schatten-Effekten spielt, markiert einen Wendepunkt im Schaffen des Renaissance-Künstlers und gilt als Kunstwerk von höchster kompositorischer Komplexität. Die gemeinsame Präsentation der beiden Gemälde wurde von Kunsthistorikern schon lange gefordert und ermöglicht nun einen Eindruck der künstlerischen Entwicklung da Vincis am originalen Kunstwerk selbst.
Im Mittelpunkt der Kooperation zwischen dem Louvre und der National Gallery steht außerdem das jüngst gesäuberte und restaurierte Gemälde „Die Jungfrau mit dem Kind und St. Anna“ (La Vierge, l’Enfant Jésus et sainte Anne), das gemeinsam mit dem sogenannten Burlington-Karton (The Burlington House Cartoon – Virgin and Child with Saint Anne and John the Baptist) aus der Londoner National Gallery gezeigt wird. Im Gemälde „Die Jungfrau mit dem Kind und St. Anna“, das zu den ambitioniertesten künstlerischen Werken da Vincis zählt, kulminieren schließlich zahlreiche Studien und ältere Arbeiten, zu denen auch der auf 1500 datierte Burlington-Karton zu rechnen ist. Beide Gemälde gehören somit ebenfalls in einen werkgeschichtlichen Zusammenhang. Auf der finalen Version des Selbdritt-Gemäldes wird allerdings der kleine Johannes der Täufer, der noch auf dem Burlington-Karton dargestellt ist, durch ein Lamm ersetzt. Gerade das Hauptwerk da Vincis ließ allerdings zahlreiche Fragen bezüglich Entstehungszeitraum und Auftraggeber lange ungeklärt. Erst im Jahr 2005 wurde in der Universitätsbibliothek Heidelberg eine Inkunabel mit einer kleinen Notiz gefunden, die auf das Jahr 1503 als Beginn der Arbeit hindeutet.
Das restaurierte Meisterwerk wird nun zum ersten Mal nach da Vincis Tod gemeinsam mit allen verwandten Arbeiten, die in dieser Spätphase entstanden sind, ausgestellt und somit in seinen kunsthistorischen Kontext eingeordnet. Die zahlreichen Kompositionsentwürfe, Landschaftsstudien, Skizzen, Zeichnungen und anderen Gemälde, die mit „Die Jungfrau mit dem Kind und St. Anna“ in Zusammenhang stehen, verdeutlichen die unterschiedlichen Arbeitsstadien und lassen die ikonographische Genese des Hauptwerkes zutage fördern.
Das Kooperationsprojekt besteht aus zwei Ausstellungsprojekten: Vom 9. November 2011 bis zum 5. Februar 2011 findet die Sonderausstellung „Leonardo da Vinci: Maler am Mailändischen Hof“ (Leonardo da Vinci: Painter of the Court of Milan) in der National Gallery in London statt, wo beide Versionen der „Felsgrottenmadonna“ zu sehen sind. Vom 29. März 2012 bis zum 25. Juni 2012 präsentiert der Louvre in Paris in der Ausstellung „Leonardo da Vincis St. Anne“ das Gemälde „Die Jungfrau mit dem Kind und St. Anna“ im werkgeschichtlichen Kontext.