Im Gegensatz zur Kultur- oder Literaturgeschichte ist die Archäologie noch immer ein weitgehend männerdominiertes Fachgebiet. Doch wie beeinflusst dies unsere Sicht der Lebenswelt vergangener Zeiten – beispielsweise des Mittelalters? Nach Ansicht einer britischen Archäologin folgt daraus eine noch immer eher männliche Sicht auf die Geschichte – eine Sichtweise, in der Frauen, aber auch Angehörige von Minderheiten und niederen Schichten nur am Rande vorkommen.
Die Diskussion ist nicht neu: Traditionell sind Männer in der Wissenschaft und den wissenschaftlichen Fachpublikationen überrepräsentiert. Dies gilt auch für die Archäologie, wie Karen Dempsey von der University of Reading betont: “In der Archäologie wird die Geschichte der Vergangenheit größtenteils durch die Erfahrungswelt von Männern erzählt”, sagt sie. Im Bereich der mittelalterlichen Archäologie beispielsweise stammen zwei Drittel der Publikationen von Männern.
Ist unsere Sichtweise einseitig?
“Die große Frage ist: Spielt dies eine Rolle? Brauchen wir eine größere Diversität in der Autorenschaft, um die Diversität der Vergangenheit zu sehen?”, fragt Dempsey. Um eine Antwort darauf zu finden, hat die Archäologin sich vor allem Veröffentlichungen zum Mittelalter und zu Ausgrabungen in mittelalterlichen Burgen näher angeschaut. “Das Mittelalter erscheint uns manchmal so vertraut, dass es leicht ist anzunehmen, dass wir es wirklich genau kennen”, sagt sie. “Dank der Überlieferungen kennen wir die Namen der Menschen, ihre Wohnorte, die Theaterstücke, die sie anschauten, die Lieder, die sie sangen und die Felder, die sie bestellten.”
Auch archäologische Funde aus dem Mittelalter gibt es reichlich, wie Dempsey erklärt. Dennoch sei es gerade in der mittelalterlichen Archäologie eher selten, dass diese Funde als Basis für eine umfassende Analyse der sozialen und alltagsbezogenen Lebenswelt der Menschen damals herangezogen werden. “Zwar beinhalten einige Studie durchaus Gender-Aspekte, diese erzählen aber größtenteils die Geschichte von Frauen in einer Männerwelt”, sagt die Archäologin. Wenn es jedoch bei diesem eher aus Männersicht kommenden Ansatz bleibe, erfasse die Archäologie nicht das ganze Bild – weder im Hinblick auf die Frauen, noch auf die von Minderheiten oder den Nichteliten der damaligen Zeit, kritisiert Dempsey.
Lebenswelt der männlichen Elite im Vordergrund
“Wir können belegen, dass die mittelalterliche Gesellschaft hochgradig geschichtet war und dass der soziale Raum und die Interaktionen reguliert waren”, sagt Dempsey. Dennoch fehle es in vielen Gebieten an wissenschaftlichen Untersuchungen und Beweisen über die tatsächliche Rolle der Frauen und anderer Teile der Bevölkerung. Ein Beispiel seien archäologische Studien zu mittelalterlichen Burgen: “Solche Gebäude werden oft als Manifestation der maskulinen Macht, des Wohlstands und Status betrachtet”, sagt Dempsey. Die meisten Studien konzentrieren sich folglich auf die Lebenswelt der männlichen Elite, wie ihre Auswertungen ergeben haben.
Die Lebenswelt von Frauen, Kindern oder Dienstboten wird dagegen nur selten betrachtet und untersucht. “Wir müssen neue Fragen an die archäologischen Belege stellen”, sagt die Forscherin. “Wie waren beispielsweise die Geschlechterrollen konstruiert und reguliert? Und wie war es für eine Person, die kein Mann der Elite war, in einem mittelalterlichen Schloss zu leben?” Die Einbeziehung von Genderaspekten ist nach Ansicht der Archäologin daher keine Frage des Trends oder der politisch-feministischen Korrektheit, sondern dringend notwendig, um ein vollständiges Bild der mittelalterlichen Lebenswelt zu erhalten. “In dieser Hinsicht hängt die Archäologie hinter der Zeit zurück”, konstatiert Dempsey.
Quelle: Antiquity, doi: 10.15184/aqy.2019.13