Vor rund 5000 Jahren wurde im Süden Spaniens eine ungewöhnlich hochrangige und angesehene Person bestattet. Kein anderer Toter der iberischen Kupferzeit erhielt ein so prachtvoll ausgestattetes und mit exotischen Grabbeigaben versehenes Grab – sogar ein ganzer Elefantenstoßzahn wurde mit ins Grab gelegt. Unter anderem deshalb hielten Archäologen diese Person lange für einen Mann. Doch jetzt enthüllen Zahnschmelz-Analysen, dass dieser “Elfenbein-Mann” in Wirklichkeit eine Frau war.
Valencina nahe der spanischen Stadt Sevilla ist eine “Mega-Fundstätte” der Kupferzeit. Dort erstrecken sich Megalith-Bauten, Gräber und riesige Wälle und Gräben über mehr als 450 Hektar. Ausgrabungen haben dort unzählige Fundstücke aus der Zeit von 3200 bis 2500 vor Christus zutage gefördert, außerdem die größte Ansammlung menschlicher Gebeine der gesamten iberischen Kupferzeit. Dieses Areal muss ein Zentrum der kupferzeitlichen Kultur gewesen sein.
Ein ungewöhnliches Grab
Im Jahr 2008 wurde in Valencina ein in mehrerer Hinsicht ungewöhnliches Grab entdeckt. So war dort nur ein Mensch begraben, während in anderen Grabanlagen dieser Fundstätte in der Regel die Gebeine mehrerer Toter lagen. Außerdem fiel Grab 10.049 durch die reichliche Präsenz des als rotes Pigment genutzten Zinnobers auf und durch die Fülle an Grabbeigaben, darunter eine Keramikplatte mit Spuren von Wein und Cannabis, eine Kupferschale sowie zahlreiche Objekte aus Feuerstein und Elfenbein. “Besonders bemerkenswert ist der komplette Stoßzahn eines Afrikanischen Elefanten – ein solcher Fund ist für Westeuropa einzigartig”, erklären Marta Cintas-Peña von der Universität Sevilla und ihre Kollegen.
Die erste Ebene des Grabes mit den Gebeinen wurde später mit großen Schieferplatten abgedeckt und darauf platzierte man weitere Beigaben: Unter ihnen waren neben weiteren Objekten aus Keramik und Elfenbein auch Gegenstände aus für diese Region exotischen Materialien wie Bernstein und Straußeneischalen. Ebenfalls darunter war ein Dolch mit einer Klinge aus Bergkristall und einem mit 90 Perlmuttperlen verzierten Elfenbeingriff. “Der Quantität und Qualität dieser Fundstücke nach zu urteilen, handelte es sich bei dieser Person um das sozial prominenteste Individuum der gesamten kupferzeitlichen Prä-Glockenbecherkultur auf der Iberischen Halbinsel”, schreiben Cintas-Peña und ihr Team.
Zahnschmelz-Protein enthüllt das wahre Geschlecht
Doch wer war diese Person? Auf Basis erster Untersuchungen gingen Archäologen bisher davon aus, dass es sich bei dem Toten um einen 17 bis 25 Jahre jungen Mann handelte – einen jungen Fürsten der Kupferzeit. Cintas-Peña und ihr Team wollten es jedoch genauer wissen und haben eine relativ neue Methode der Geschlechtsbestimmung bei diesem Toten durchgeführt. Sie beruht einem für die Bildung des menschlichen Zahnschmelzes wichtigen Protein, Amelogenin, das bei Männern und Frauen in zwei leicht unterschiedlichen Formen vorkommt. Dies liegt daran, dass das dafür zuständige Gen AMELX beziehungsweise AMELY bei Frauen auf dem X-Chromosom, bei Männern auf dem Y-Chromosom liegt und beim Ablesen leicht verändert wird.
Cintas-Peña und ihre Kollegen haben deshalb Proben vom Zahnschmelz des “Elfenbein-Fürsten” genommen und auf die Amelogenin-Variante hin analysiert. Das überraschende Ergebnis: Die Zähne der im Grab 10.049 bestatteten Person enthielten das AMELX-Gen. “Das von den Chromosomen determinierte Geschlecht dieser Person war demnach weiblich – der Elfenbein-Fürst war eine Elfenbein-Fürstin”, konstatiert das Forschungsteam. Dies werfe die etablierten Vorstellungen über diese Zeit und Kulturen über den Haufen. “Wir stellen fest, dass die sozial hochrangigste Person der iberischen Kupferzeit kein Mann war, wie zuvor angenommen, sondern eine Frau. Sie war eine führende Persönlichkeit zu einer Zeit, in der kein Mann eine auch nur annähernde vergleichbare Position innehatte”, so Cintas-Peña und ihre Kollegen.
Untermauert wird dies unter anderem durch die Tatsache, dass die einzigen anderen mit ähnlichem Aufwand und Beigaben bestatteten Toten im Gräberfeld von Valencina ebenfalls Frauen waren: Es handelt sich um 15 Frauen, die zwei bis drei Generationen nach der “Elfenbein-Fürstin” lebten. Sie wurden gemeinsam bestattet und waren mit reichlich Zinnober und Muschelperlen geschmückt, wie die Forschenden berichten. Sie vermuten, dass es sich dabei vielleicht um eine Art Priesterinnen gehandelt haben könnte – möglicherweise waren sie es auch, die die zweite Ebene der Beigaben in Grab 10.049 angelegt haben. Nach Ansicht von Cintas-Peña und ihrem Team legen diese Ergebnisse nahe, dass die Kulturen der europäischen Kupferzeit möglicherweise matriarchalischer organisiert waren als lange angenommen.
Quelle: Scientific Reports, doi: 10.1038/s41598-023-36368-x