Archäologie mit Vogelkunde kombiniert: Zwei Forscher haben die Verbreitungsgeschichte des Weißstorchs rekonstruiert. Dabei wurde deutlich, wie sich der prominente Vogel seit der Antike im Umfeld des Menschen in Europa ausgebreitet hat. Ausgerechnet den heute teils intensiv besiedelten Nordosten Europas inklusive Norddeutschlands hat sich der Storch aber erst im Mittelalter erobert. Dies hatte offenbar mit den landwirtschaftlichen Veränderungen in dieser Ära zu tun, erklären die Forschenden.
Er ist der symbolische Legende nach der Überbringer der Kinder und wird mit Glück verknüpft: Der Weißstorch (Ciconia ciconia) ist ein ausgesprochen beliebter und kulturell bedeutender Vertreter der europäischen Vogelwelt. Neben seiner charismatischen prominenten Erscheinung hat dies damit zu tun, dass er die Nähe des Menschen zu schätzen scheint: Er nistet auf Dächern und geht in Feldern und Wiesen auf Nahrungssuche. Doch inwieweit ist der Storch tatsächlich ein Kulturfolger? „Um diese Frage zu beleuchten, müssen wir erst einmal wissen, wann der Storch früher wo lebte“, sagt Ulrich Schmölcke vom Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA) in Schleswig.
Dem Storch auf der Spur
Zur Erforschung dieses Themas gewann der Archäologe die Unterstützung des Vogelkundlers Kai-Michael Thomsen vom Michael-Otto-Institut im Michael-Otto-Institut im NABU- Forschungs- und Bildungszentrum für Feuchtgebiete und Vogelschutz in Bergenhusen. Um die Verbreitungsgeschichte des Weißstorchs in Europa seit der letzten Eiszeit zu untersuchen, haben die beiden Autoren zahlreiche veröffentlichte Funde von Vogelknochen im Rahmen von archäologischen Projekten ausgewertet. Außerdem haben sie weitere Quellen und historische Hinweise auf die Verbreitung der Vögel in ihre Studie integriert. „Dank dieser umfangreichen Datengrundlage lassen sich zuverlässige Aussagen über die Verbreitung des Weißstorchs in den letzten Jahrtausenden treffen“, sagt Schmölcke.
Wie die Forscher berichten, zeichnet sich ab, dass der Weißstorch ein Nutznießer von bestimmten, menschengemachten Landschaftsveränderungen war. Vor allem im Zuge der Ausbreitung des Römischen Reiches konnte er offenbar seine ursprünglichen Verbreitungsgebiete nach Norden und Osten ausdehnen und sich verstärkt im Umfeld des Menschen etablieren. „Die Verbreitungsgrenze des Weißstorchs stimmte am Ende der Antike genau mit der Ausdehnung des Römischen Reiches überein. Aus antiken Schriftquellen geht hervor, dass er zu dieser Zeit bereits eng mit den Menschen verbunden war“, sagt Schmölcke. Im frühen zweiten Jahrhundert wurde etwa berichtet, dass ein Storchenpaar auf dem Dach eines Tempels der Göttin Concordia im Zentrum Roms genistet hat, schreiben die Autoren.
Erst im Mittelalter Einzug in Norddeutschland
Wie aus den Recherchen hervorgeht, fand der Weißstorch damals allerdings noch keine geeigneten Lebensräume in den europäischen Regionen jenseits der Grenzen des Römischen Reiches. Dies änderte sich dann erst im Laufe des Mittelalters: „Ausgerechnet der Nordosten des Kontinents inklusive Norddeutschlands mit seiner heute so hohen Populationsdichte wurde erst in vergleichsweise junger Vergangenheit Teil des Weißstorchgebiets. Erst vor etwa 1000 Jahren erweiterte sich das Verbreitungsgebiet des Weißstorches rasant nach Nordosten“, sagt Thomsen. Wie er erklärt, hatte dies offenbar mit dem landwirtschaftlichen Wandel zu tun, von dem der Storch profitierte: „Die Entwicklung fällt zeitlich mit dem mittelalterlichen Landesausbau zusammen, bei dem viele Wälder gerodet und neue landwirtschaftliche Nutzflächen angelegt wurden“, sagt Thomsen.
Den beiden Forschern zufolge hat die Studie damit sowohl eine Bedeutung für die historische Forschung als auch für den Naturschutz. „Wenn wir verstehen wollen, wie Arten sich ausbreiten oder warum sie aus einigen Gebieten wieder verschwinden, können wir uns nicht nur den aktuellen Zustand ansehen. Wir müssen auch langfristige Entwicklungen verstehen“, so Thomsen. Dazu sagt ergänzt Schmölcke: „Die Studie zeigt das große Potenzial, das eine Zusammenarbeit von Ornithologie und Archäologie hat“. Weitere Studien zu anderen Arten könnten nun also folgen.
Quelle: Cluster of Excellence ROOTS – Social, Environmental, and Cultural Connectivity in Past Societies, Fachartikel: Europe. J Ornithol, doi: 10.1007/s10336-024-02206-8