Die Bewohner der Steinzeit-Siedlung Çatalhöyük in der Türkei pflegten einen engen, aber ungewöhnlichen Umgang mit ihren Verstorbenen. Sie gruben diese nach ihrer Bestattung im Inneren ihrer Häuser mehrmals wieder aus und beerdigten die Gebeine erneut. Außerdem wurden die Toten mit Ocker, Zinnober oder grünblauen Farben bemalt – und parallel dazu bekamen auch die Zimmerwände einen passenden Anstrich, wie Archäologen festgestellt haben. Dies könnte auf eine Art früher Erinnerungskultur hindeuten.
Die Steinzeit-Siedlung Çatalhöyük in Zentralanatolien gilt als die älteste Stadt der Welt. Schon vor rund 9000 Jahren errichteten Menschen dort dicht an dicht liegende Lehmhäuser, deren Räume über Dachöffnungen betreten wurden. Die gesamte Siedlung erstreckte sich über mehr als 13 Hektar. Typisch für diese neolithische Stadt ist die Bemalung der Innenwände, Steinbänke oder Nischen in vielen Häuser. Die Darstellungen zeigen meist einfarbig ausgeführte abstrakte Muster und Handabrücke, aber auch Tierfiguren. Diese “Kunst am Bau” ist eines der prägenden Merkmale von Çatalhöyük.
Hausboden als Begräbnisort
Eine zweite Eigenheit der Bewohner von Çatalhöyük ist die damals gängige Praxis, gestorbene Angehörige unter dem Boden der Wohnräume zu bestatten. “Erwachsene wurden dabei oft in gebeugter Haltung unter den nördlichen und östlichen Plattformen des zentralen Raums bestattet”, berichten Eline Schotsmans von der Universität Bordeaux und ihre Kollegen. Bei verstorbenen Kindern waren die Begräbnisorte variabler. Schon frühe Ausgrabungen lieferten zudem Hinweise darauf, dass viele der Toten Spuren von Pigmenten aufwiesen, darunter von Ocker und Zinnoberrot.
Wann die Bewohner von Çatalhöyük diese Farben für ihre Toten verwendeten, welche Toten derart geschmückt wurden und ob es einen Zusammenhang zu den Wandgemälden der Häuser gab, haben Schotsmans und ihr Team nun näher untersucht. Dafür werteten sie die Daten zu insgesamt 816 in Çatalhöyük entdeckten Toten aus und ermittelten zunächst, ob es sich um ein primäres Begräbnis eines “frischen Toten” handelte oder um eine Wiederbestattung nur der Knochen oder des Schädels. Dann untersuchten sie, ob es Spuren von Pigmenten an den Toten gab, um welche Farben es sich handelte und ob ein Zusammenhang zu Alter, Geschlecht oder anderen Merkmalen der Toten erkennbar war. Erstmals ermittelten die Archäologen zudem, ob es einen Zusammenhang zwischen der Behandlung der Toten und den Wandmalereien in Çatalhöyük gab.
Zinnober für Männer, grün und blau für Frauen
Die Analysen enthüllten, dass nur ein kleiner Teil der Toten in der jungsteinzeitlichen Siedlung Spuren von Pigmenten aufwies. Gut drei Viertel davon waren die Gebeine von Verstorbenen, die kurz nach ihrem Tod in Matten oder andere Gewebe eingehüllt und im Boden der Wohnhäuser bestattet worden waren. Aus der Verteilung der Farbspuren schließen die Archäologen zudem, dass diese Pigmente wahrscheinlich im Rahmen von Totenritualen auf die Haut oder die Umhüllung der Toten aufgetragen oder aufgestreut worden sind. Allerdings gab es auch Wiederbestattung von Skeletten oder einzelner Knochen, bei denen die Gebeine offenbar gefärbt worden waren. Warum einige Tote gefärbt wurden, andere aber nicht, ist noch unklar. “Unsere Studie zeigt, dass diese Auswahl nicht mit dem Alter oder dem Geschlecht zusammenhängt”, sagt Seniorautor Marco Milella.
Nähere Analysen ergaben jedoch, dass die Nutzung der verschiedenen Pigmente durchaus bestimmten Mustern folgte: “Die Applikation von Zinnober scheint hauptsächlich für männliche Tote reserviert gewesen zu sein”, berichten Schotsmans und ihre Kollegen. In vielen Fällen zeigten die Schädel dieser Verstorbenen einen gefärbten Streifen an Stirn und Schläfen. “Dies könnte auf die einstige Präsenz eines Stirnbands hindeuten”, schreiben die Archäologen. Solche Stirnbänder waren und sind in vielen Kulturen ein Zeichen für einen hohen sozialen Status, wie sie erklären. Dazu könnte passen, dass auch das intensive und beständige Rot des Zinnobers in früheren Zeiten oft den Eliten vorbehalten war. Im Gegensatz dazu fanden sich grüne und blaue Pigmente nur bei weiblichen Toten und Kindern. “Diese Farben werden manchmal mit Konzepten von Wachstum, Fruchtbarkeit und Reihe assoziiert”, erklären die Wissenschaftler.
Wandschmuck und Bestattung eng verknüpft
Und noch einen Zusammenhang stellten die Archäologen fest: Die Wohnhäuser, in denen Tote bestattet worden waren, zeigten fast immer auch farbige Wandbemalungen. Je mehr Gebeine in einem Raum gefunden wurden, desto mehr Farbschichten fanden sich zudem an den Wänden. “Dies deutet darauf hin, dass die Zahl der bemalten Putzschichten an den Wänden mit der Zahl der Begräbnisse im Raum verknüpft ist”, erklären Schotsmans und ihr Team. Ihrer Ansicht nach spricht dies dafür, dass die Totenrituale der Menschen in Çatalhöyük möglicherweise auch eine Neufärbung der Wände umfassten.
“Wir zeigen damit erstmals Zusammenhänge zwischen Bestattungsritualen, Wohnbereichen und der Verwendung von Farbstoffen in dieser faszinierenden Gesellschaft”, sagt Milella. Die Archäologen vermuten, dass diese Verknüpfung möglicherweise Teil einer frühen Erinnerungskultur gewesen sein könnte. Visuelle Ausdrucksformen, rituelle Handlungen und symbolische Assoziationen waren in dieser jungsteinzeitlichen Kultur offenbar Elemente einer gemeinsamen soziokulturellen Praktik.
Quelle: Universität Bern, Fachartikel: Scientific Reports, doi: 10.1038/s41598-022-07284-3