Einer der Politiker, die im Zuge der Dolchstoßlegende fast vollständig aus dem Gedächtnis der Deutschen verdrängt wurden, war Matthias Erzberger. Zum Gedenken an seinen 90. Todestag erklärt das Haus der Geschichte Baden-Württemberg das Jahr 2011 zum Erzberger-Jahr. Das Erinnerungsjahr trägt den Titel „Matthias Erzberger: Verhasst, ermordet, vergessen. – Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie“.
Matthias Erzberger, einer der führenden Köpfe der katholischen Zentrumspartei, wurde am 20. September 1875 in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb geboren. Nach der Schule wurde er Volksschullehrer, arbeitete als Journalist und fand schließlich ab 1903 mit gerade einmal 28 Jahren seine Berufung als Politiker im Reichstag.
Während seiner politischen Karriere fiel Erzberger durch seine Wortgewalt, seinen immensen Fleiß und sein großes Engagement für die Arbeiter und Bauern Württembergs auf, deren Organisation in Verbänden er förderte. Erzberger, einer der ersten Berufspolitiker, setzte sich zudem für den Parlamentarismus ein und war entschiedener Gegner des preußischen Beamtenstaats. So deckte Erzberger beispielsweise die Vergewaltigung von minderjährigen afrikanischen Mädchen durch einen preußischen Verwaltungsbeamten auf.
1918 unterzeichnete er, nach Rücksprache mit Hindenburg, den Waffenstillstand von Compiègne, was ihm die Feindschaft der politischen Rechten eintrug. Ein Umstand, der durch Erzbergers Widerstand gegen die Dolchstoßlegende noch verstärkt wurde, bezeichnete er doch die Niederlage im Krieg als Scheitern der alten Eliten des Kaiserreichs. Anders als von seinen Gegnern dargestellt, war Erzberger als Unterzeichner des Waffenstillstands kein Werkzeug der Franzosen. Er, der sich in den ersten Kriegsjahren zunächst für einen Siegfrieden eingesetzt hatte, sah sich gezwungen zu unterzeichnen, um ein Eindringen der Entente-Mächte auf das Gebiet des Reichs und die damit einhergehende Zersplitterung in Einzelstaaten zu verhindern.
Die wohl beeindruckendste Leistung Erzbergers ist die Reform des Steuer- und Finanzsystem 1919/1920. Schon nach Antritt seines Reichstagsmandats 1903 nutzte der ehemalige Volksschullehrer seine politische Position, um in der Budget-Kommission des Haushaltausschusses zu wirken. Auffällig war seine hohe Belastbarkeit, 16 Stunden Tage waren für Erzberger die Regel. Die kommenden Jahre gaben weiteres Zeugnis seiner Kompetenz, Erzberger wurde zu einem der führenden Finanz- und Sozialpolitiker seiner Partei. Den Höhepunkt seiner Karriere als Finanzpolitiker erreichte er mit Ende des 1. Weltkriegs. Er wurde wegen seiner fachlichen Qualifikation Finanzminister der Regierung Bauer. Als Finanzminister setzte er einige der wichtigsten Entscheidungen der Steuer- und Finanzpolitik des 20. Jahrhunderts durch. Deutschland hatte 1919 153 Milliarden Schulden – im Vergleich: 1913 waren es noch fünf Milliarden. Der Haushalt musste dringend konsolidiert werden. Als Finanzminister vereinfachte und vereinheitlichte Erzberger das Steuersystem und setzte den Gedanken der Sozialpflichtigkeit des Eigentums um. Er schuf eine Reichssteuerverwaltung und schwächte damit den vorherrschenden Föderalismus zu Gunsten des Reichs. In nur neun Monaten schuf Erzberger mit seiner Reform ein Steuer- und Finanzsystem, dessen Grundstrukturen wie die progressive Einkommenssteuer, bis heute maßgebend sind.
Durch seinen Sinn für steuerliche Gerechtigkeit, sein Eintreten für die junge Demokratie und die Unterzeichnung des Waffenstillstands hatte sich Erzberger viele Feinde, insbesondere auf dem rechten Flügel, gemacht. Nachdem ein Attentatsversuch auf ihn gescheitert war, gelang es 1921 zwei ehemaligen Offizieren, Erzberger zu ermorden. Sein tragischer Tod wurde in der Erinnerungskultur, obwohl 30000 Menschen zu seiner Beerdigung in Biberach kamen, kaum festgehalten. Möglich wurde das Vergessen dieses Vorzeigedemokraten durch die nationalistische Hetze der Folgezeit und der Überschattung des Attentats durch andere Ereignisse wie dem Mord an Rathenau, dem damaligen Außenminister der Weimarer Republik. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg will nun in einem Erzberger-Jahr 2011 die Leistungen dieses Mannes würdigen und zugleich seine Errungenschaften und Politik kritisch beleuchten. Getragen wird dieses Bestreben mit einem facettenreichen Programm: Im Rahmen der Auftaktveranstaltung, einer Soirée im Haus der Geschichte am 14. April, werden wichtige Texte Erzbergers mit von Musik untermalten Lesungen vorgestellt. Zudem soll am 30. Juni ein Begleitband zur Ausstellung im Erzbergermuseum in Münsingen-Buttenhausen erscheinen, indem die Exponate aus dem Leben Erzbergers dargestellt werden. Darüber hinaus finden in den nächsten Monaten viele Veranstaltungen in den ehemaligen Wirkungsstätten Erzbergers statt, unter anderem Vorträge in Bad Saulgau und Biberach.
Abgeschlossen wird das Erzberger-Jahr durch ein Symposium im Stuttgarter Rathaus am 24. und 25. November. Verschiedene renommierte Wissenschaftler präsentieren dann in allgemein verständlicher Sprache für ein breites Publikum neueste Erkenntnisse zum Leben und Wirken eines der Wegbereiter der Demokratie, Matthias Erzberger.