Während des Zweiten Weltkriegs errichteten die Nazis auch auf der Insel Alderney im Ärmelkanal mehrere Arbeitslager – vor allem um die Befestigungen für den “Atlantikwall” zu bauen. Wie sich das schlimmste dieser Lager entwickelte und wie die Bedingungen dort für die Häftlinge waren, haben nun Forscher anhand archäologischer Untersuchungen rekonstruiert. Ihre Daten helfen auch dabei, historische Berichte zu verifizieren.
Als für die Briten absehbar war, dass sie ihre Kanalinseln nicht gegen die Deutsche Wehrmacht würden verteidigen könnten, evakuierten sie einen Großteil der Einwohner und überließen sie weitgehend kampflos den deutschen Besatzern. Ab dem 2. Juli 1940 kam dadurch auch Alderney, die nördlichste der Kanalinseln, unter deutsche Herrschaft. “Die Besetzung der Insel war ein taktischer Coup für die Nazis, denn Alderney galt als letzter Trittstein vor der Eroberung Großbritanniens”, erklären Caroline Sturdy Colls und ihre Kollegen von der Staffordshire University. “Alderney wurde schnell zu einer der am stärksten befestigten Gebiete Westeuropas und wurde Teil des Atlantikwalls, dem System von Verteidigungsanlagen entlang der Küste.”
Erst Arbeitslager, dann Konzentrationslager der SS
Für den Bau der Befestigungen auf Alderney setzten die Deutschen mehrere tausend Zwangsarbeiter ein, die sie aus Osteuropa und Russland auf die Insel brachten und dort in mehreren Lagern gefangen hielten. Im August 1942 wurde unter Aufsicht der Organisation Todt ein weiteres Lager im Süden der Insel errichtet. Dieses “Sylt” getaufte Lager diente zur Unterbringung von 100 bis 200 politischen Häftlingen, die ebenfalls zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. “Die wenigen Zeugnisse, die das Leben im Arbeitslager Sylt beschreiben, unterstreichen die dort begangenen Grausamkeiten, selbst in dieser frühen Periode”, berichten Colls und ihr Team. Demnach waren die Arbeiter unterernährt, hatten kaum geeignete Kleidung und “wurden mit allem geschlagen, das die Wachleute in die Hände bekamen”, wie in ehemaliger Häftling später berichtete.
Doch es sollte noch schlimmer kommen: “Im März 1943 wurde Sylt von der Organisation Todt an den SS Totenkopfverband übergeben und von einem Arbeitslager in ein Konzentrationslager umgewandelt. Die bisherigen Insassen wurden auf andere Arbeitslager verteilt, um Platz zu schaffen für mehr als tausend Häftlinge, die aus den KZ Sachsenhausen und Neuengamme nach Alderney gebracht wurden. Die meisten dieser KZ-Häftlinge waren politische Gefangene aus Osteuropa, die nun unter noch härteren Bedingungen wie ihre Vorgänger am Atlantikwall bauen mussten, wie die Forscher berichten.
Eng gedrängt und ohne Schutz
Wie allerdings das Lager “Sylt” vor und nach dieser Übergabe aussah, welche Bauten es gab und unter welchen Bedingungen die Häftlinge lebten, ist bislang nur aus Untersuchungen direkt nach Kriegsende bekannt – und diese sind nur bedingt verlässlich und vollständig, wie Colls und ihr Team betonen. Denn ein Großteil des Lagers wurde von den Deutschen vor Ankunft der Alliierten zerstört und viele Informationen über seinen Aufbau stammen von Befragungen der deutschen SS-Leute und Soldaten. “Auch wenn historische Quellen wertvolle Ressourcen sein können, kann die Nazi-Dokumentation irreführend sein, sowohl durch Täuschung als auch durch einseitige Perspektiven oder fehlende Dokumente”, erklären die Forscher.
Um objektivere Informationen über das Lager und seine Entwicklung zu erhalten, haben Colls und ihr Team daher in den letzten Jahren umfangreiche archäologische Untersuchungen auf Alderney durchgeführt. Unter anderem durch geophysikalische Analysen des Untergrunds, Methoden der Fernerkundung und der Vegetationsanalyse gelang es ihnen, trotz fehlender Ruinen den Aufbau des Lagers zu verschiedenen Zeitperioden zu rekonstruieren. Die neuen Karten enthüllen, dass das Lager “Sylt” im August 1942 nur aus fünf Baracken, umgeben von einem Zaun aus gerolltem Stacheldraht bestand. Bereits im Januar 1943, kurz vor der Übernahme durch die SS, hatte sich die Größe des Lagers verdreifacht. Im August 1943 kamen im Zuge der Umwandlung in ein KZ weitere Bauten hinzu, zudem wurde ein neuer Zaun mit Wachtürmen in den Ecken errichtet, wie Colls und ihr Team berichten. Die SS baute zudem für sich einen eigenen Bereich mit stabilen, großzügigen Steinhäusern, einem Bunker, einer Kantine und einem eigenen Haus für den Lagerkommandanten.
Die archäologischen Funde, kombiniert mit historischen Quellen geben auch tieferen Einblick über die Zustände im Lager. So schließen die Forscher aus der Größe und Zahl der Baracken, dass die Gefangenen extrem beengt lebten und kaum vor dem harschen Wetter der Insel geschützt waren. Selbst die Ställe für die Pferde der SS boten damals bessere Bedingungen, wie Colls und ihr Team schreiben. Historische Quellen berichten zudem, dass die SS selbst die wenigen für die Gefangenen gedachten Lebensmittel für sich stahlen. “Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass Sylt viele der äußeren und funktionellen Merkmale anderer SS-Lager in Europa besaß”, so die Forscher. Dies stütze die Annahme, dass das Lager auf Alderney Teil des nationalsozialistischen Netzwerks von Konzentrationslagern war. Gleichzeitig enthüllen die aktuellen Ergebnisse, dass entgegen bisheriger Annahme Relikte der einstigen Lagerbauten durchaus noch im Untergrund erhalten sind.
Quelle: Antiquity, doi: 10.15184/aqy.2019.238