Für die einen ist es eine gefährliche Droge, für die anderen ein Genuss- und Heilmittel: Diesen Streit über das Cannabis gibt es schon lange, verdeutlicht eine Historikerin. Sie berichtet über den mexikanischen Priester und Wissenschaftler José Antonio Alzate y Ramírez, der sich im 18. Jahrhundert für den Einsatz der Hanfpflanze als Heilkraut einsetzte und sich dabei mit der Kirche anlegte.
Soll Cannabis als Genussmittel beziehungsweise zu medizinischen Zwecken legalisiert werden oder soll es eine illegale Droge bleiben? Dies wird in vielen Ländern seit Jahren kontrovers diskutiert. Vor allem vor dem Hintergrund der allgemeinen Akzeptanz der „Volksdroge Alkohol“ erscheint vielen die Verurteilung von Cannabis als Doppelmoral. Klar ist: Beide können bei einem problematischen Einsatz als Genussmittel zu Schäden führen. Doch im Gegensatz zum Alkohol können die Wirksubstanzen des Cannabis auch medizinische Effekte entfalten und sind deshalb bereits seit einige Zeit Gegenstand der Forschung.
Ein buchstäblich verteufeltes Gewächs
Das medizinische Potenzial von Cannabis schätze auch schon der mexikanische Gelehrte José Antonio Alzate y Ramírez (1737 bis 1799), wie die Historikerin Laura Dierksmeier von der Universität Tübingen in ihrer Veröffentlichung berichtet. Ramírez war ein Allrounder vom alten Schlag: Er war Priester, Wissenschaftler, Historiker, Kartograph und Journalist. Im Laufe seines Lebens war er Herausgeber von vier verschiedenen Zeitungen, Mitglied des königlichen botanischen Gartens in Madrid und korrespondierendes Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften. „Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch: Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen“, sagt Dierksmeier.
Im Fall des Hanfs war dies besonders problematisch: Die spanische Inquisition betrachtete das potenziell berauschend wirkende Kraut als ein Mittel, um mit dem Teufel in Verbindung zu treten und hatte es daher verboten. Gegen diese einseitige Betrachtungsweise der Pflanze, die er mit dem Namen „Pipiltzintzintlis“ bezeichnete, wandte sich Alzate im Jahr 1772 in einem Zeitungsartikel, berichtet Dierksmeier. Darin beschrieb er den wertvollen medizinischen Nutzen der Pflanze für die Behandlung von verschiedenen Leiden wie Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumoren und auch Depressionen. Zudem hob er hervor, dass die Hanfpflanze einen hervorragenden Rohstoff zur Herstellung von Seilen für Segelschiffe darstellt.
Riskantes Plädoyer
Wie Dierksmeier erklärt, ging Alzates mit dieser Veröffentlichung damals ein erhebliches ein Risiko ein: Kritikern der Obrigkeit und Kirche drohten in dieser Ära noch Verbannung oder sogar die Todesstrafe. Alzate traf dieses harte Schicksal zwar nicht, drei seiner Zeitungen wurden allerdings zensiert und am Ende eingestellt, um den Gegner in der Öffentlichkeit mundtot zu machen, berichtet die Historikerin. „Alzates öffentliche Verteidigung des verbotenen Krauts zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft“, so Dierksmeier. „Er blieb ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen“, würdigt sie den mutigen Geistlichen.
Wie Dierksmeier weiter berichtet, stellte Alzates sein Plädoyer für den sinnvollen von Cannabis auch auf solide Füße: Alzate führte in seinem Artikel von 1772 neben eigenen Erfahrungen verschiedene Belege zum medizinischem Nutzen des Cannabiskonsums an. „Das Spannende ist dabei vor allem die Bandbreite der Quellen des 18. Jahrhunderts, die den medizinischen Marihuanakonsum unterstützten“, so Dierksmeier. Alzate nannte in seinem Artikel auch namhafte Wissenschaftler und Naturforscher, die ebenfalls über das medizinische Potenzial von Cannabis berichtet haben.
Die Historikerin hat die damalige Recherche von Alzate mit den heutigen Möglichkeiten ergänzt: Sie untersuchte weitere historische Quellen, die von dem mexikanischen Forscher nicht zitiert wurden, weil er keinen Zugang hatte, oder die Sprache nicht beherrschte. Beispielsweise hebt sie den deutschen Mediziner und Botaniker Jacobus Tabernaemontanus hervor, der in seinem „Neuw Kreuterbuch“ bereits im Jahr 1588 Frauen Cannabis empfohlen hat, um Unterleibsschmerzen zu lindern, oder auch den ersten bekannten englisch-sprachigen Fürsprecher der Pflanze, Richard Hooke.
„Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungs-Debatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen“, sagt Dierksmeier. „Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder wie Ramírez selbst sagte: ‚Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipilzitzintlis demonstriert, und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist‘“, zitiert Dierksmeier den Priester und Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts.
Quelle: Universität Tübingen, Fachartikel: Colonial Latin American Review, doi: 10.1080/10609164.2020.1755941