Schon die Griechen planten bei vielen ihrer Heiligtümer den Zugang für gehbehinderte oder alte Menschen ein. Davon zeugen Steinrampen, die an vielen der Heilkunst gewidmeten Tempeln zu finden waren, wie nun eine Archäologin aufzeigt. Besonders häufig gab es solche behindertengerechten Zugänge an den Heiligtümern, die eine Heilung von Lahmheit und anderen Beschwerden der Beine und Füße versprachen.
Heute wird beim Bau öffentlicher Gebäude besonders darauf geachtet, Zugänge für Menschen mit Behinderungen zu schaffen – das war lange nicht selbstverständlich. Über Jahrhunderte sorgten Treppen und andere Hindernisse dafür, dass Menschen mit Gehbehinderungen oder auch ältere, in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen von vielen gesellschaftlichen Anlässen und öffentlichen Orten ausgeschlossen blieben.
Verletzungen und Behinderungen waren in der Antike häufig
Doch wie war das in der Antike? Klar scheint, dass damals Behinderungen sogar eher häufiger vorkamen als heute, davon zeugen viele schriftliche Überlieferungen. “Schon der Hippokratische Corpus, eine Schriftensammlung anonymer Mediziner aus dem späten fünften und vierten Jahrhundert vor Christus, beschreibt Einschränkungen und Deformitäten, die Menschen aus allen Bereichen des Lebens betrafen”, erklärt Debby Sneed von der California State University in Long Beach. Die Spanne reicht von Kriegsverletzungen über die Auswirkungen von Infektionskrankheiten bis hin zu angeborenen Fehlbildungen. Abbildungen auf griechischen Vasen und Untersuchungen von Gebeinen legen zudem nahe, dass viele ältere Menschen damals unter Arthritis litten und deshalb in ihrer Mobilität eingeschränkt waren.
“Wir können daher annehmen, dass die Mehrheit der Erwachsenen im antiken Griechenland – ob Männer oder Frauen, Bürger, Sklaven oder Fremde – entweder selbst unter Behinderungen litten oder zumindest jemand Betroffenen in ihrem Haushalt oder ihrer Gemeinschaft kannten”, sagt Sneed. Gleichzeitig wurden Menschen beispielsweise mit Klumpfuß oder Beinverletzungen jedoch nicht ausgeschlossen oder verschämt weggesperrt, sondern waren offenbar selbstverständlicher Teil der Gesellschaft: “Sie waren Generäle und Könige, wurden als Götter verehrt, auf Kunstwerken abgebildet und zusammen mit anderen Patienten in ihren Heilstätten behandelt”, so die Archäologin. “Die Stadt Athen zahlte behinderten Menschen, die sich nicht selbst versorgen konnten, sogar eine Art täglicher Behindertenrente.”
Rampen für den leichteren Zugang
Diese Haltung der antiken Inklusion spiegelt sich auch in der Architektur vieler Heiligtümer im antiken Griechenland wider, wie die Forscherin erklärt. Denn an vielen Tempeln finde sich steinerne Rampen, die den Zugang zu dem sonst nur über Treppenstufen erreichbaren Innenraum dieser Heiligtümer gewährleisten. “Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Rampen für den Transport von Opfertieren gedacht waren, da diese meist auf Altären vor den Tempeln geopfert wurden”, erklärt Sneed. Auch eine Funktion beim Bau der Gebäude sei nicht plausibel, da dann solche Rampen auch an anderen großen Gebäuden wie Schatzhäusern vorhanden sein müssten.
Auffällig zudem: Solche Rampen finden sich besonders häufig an bestimmten Tempeln, die ihren Besuchern Heilung von Leiden versprachen. Ein Beispiel dafür ist das Asklepios-Heiligtum in Epidauros, einem der wichtigsten der Heilkunst gewidmeten Tempel des antiken Griechenlands, wie Sneed erklärt. Diese Anlage weist gleich elf Rampen auf, die Zugang zu ihren inneren Bereichen gewähren. Auch der kleinere Asklepios-Tempel in Korinth hat mehrere solcher Rampen. Beiden gemeinsam ist, dass sie offenbar von besonders vielen Kranken mit Fuß- und Beinleiden besucht wurden: “Die dort erhaltenen Votivgaben repräsentieren eine Vielzahl von Körperteilen, darunter eine besonders große Zahl von Beinen und Füßen von Männern und Frauen”, berichtet die Archäologin. Zudem zeugen mehr als 70 überlieferte Texte davon, dass Menschen mit Lähmungen, auf Krücken oder in Sänften getragen diese Tempel besuchten. Nach Ansicht der Forscherin legt dies nahe, dass diese Heiligtümer auch architektonisch an diese Besucher angepasst wurden – man baute die Tempel von vornherein behindertengerecht.
“Ähnlich wie Stätten des Sports mit entsprechenden Stadien und Gymnasien ausgestattet wurden, boten der Heilkunst gewidmete Tempel ihren Besuchern Strukturen, die diesen den Zugang zu den rituellen Aktivitäten erleichterten”, sagt Sneed. Auch wenn die antiken Griechen weder besonders progressiv waren noch spezielle Gesetze gegen Diskriminierung besaßen, war diese Form der Inklusion für sie offenbar selbstverständlich. “Wenn schon die Griechen diese Rücksichtnahme auf ihre behinderten Mitbürger zeigten, sollten wir das erst recht praktizieren”, konstatiert die Archäologin.
Quelle: Antiquity, doi: 10.15184/aqy.2020.123