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Archäologen decken Geschlechtschromosomen-Anomalien auf

Archäogenetik

Archäologen decken Geschlechtschromosomen-Anomalien auf
Blick auf eine Ausgrabung in England, bei der eine mittelalterliche Person mit XXY-Chromosomen-Anomalie gefunden wurde. © Oxford Archaeology

Sie lebten einst mit einem X- oder Y-Chromosom zu viel oder zu wenig – und mit den damit verbundenen Folgen: Anhand von alter DNA aus Knochenfunden hat ein Forschungsteam Menschen identifiziert, die verschiedene Formen von Chromosom-Anomalien aufwiesen, die ihre geschlechtliche und körperliche Entwicklung beeinflussten. Diese neue Analyse-Möglichkeit könnte zukünftig beleuchten, wie vergangenen Gesellschaften mit „ungewöhnlichen“ Menschen umgingen, sagen die Wissenschaftler.

Was macht Menschen zu Mann oder Frau? Bei dieser Frage kommt es darauf an, mit welchem Aspekt des komplexen Themas der menschlichen Geschlechtsidentität man sich befasst. Als eine Art Grundlage gilt allerdings das sogenannte genetische oder chromosomale Geschlecht. Es wird durch die typische Kombination der Geschlechtschromosomen in den Zellen eines Menschen definiert. Die Grundlage für die Entwicklung weiblicher Geschlechtsmerkmale bilden dabei zwei X-Chromosomen, für die männlichen hingegen die Kombination eines X- mit einem Y-Chromosom. Doch nicht alle Menschen tragen entweder eine XX- oder XY-Paarung in sich. Es kann während früher Entwicklungsstadien zu Störungen bei der Verteilung der Geschlechtschromosomen kommen. Dadurch können manche Menschen mit einem X- oder Y-Chromosom zu viel oder zu wenig ausgestattet sein.

Formen und Folgen

Eine der häufigsten Formen dieser sogenannten geschlechtschromosomalen Aneuploidien ist dabei eine XXY-Kombination. Menschen, die von diesem sogenannten Klinefelter-Syndrom betroffen sind, entwickeln meist grundsätzlich männliche Geschlechtsmerkmale. Aber durch eine verringerte Testosteronproduktion kann es zu einer verspäteten Pubertät und zur Entwicklung von weiblichen Zügen kommen. Zudem sind die Betroffenen oft überdurchschnittlich groß. Letzteres gilt auch im Fall einer XYY-Kombination – dem sogenannten Jacobs-Syndrom. Durch das zusätzliche Y-Chromosom bilden sich aber ansonsten meist normale männliche Merkmale aus.

Ein weiterer Fall der Geschlechtschromosom-Anomalie ist das sogenannte Turner-Syndrom. Die Betroffenen besitzen dabei nur ein einzelnes X-Chromosom. Sie entwickeln sich dadurch meist weiblich. Durch eine verminderten Östrogenproduktion kann es aber während der Entwicklung zu einem Ausbleiben der Bildung typisch weiblicher Merkmale und zu Unfruchtbarkeit kommen. Außerdem bleiben die Personen oft auffallend klein.

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Wie das Forschungsteam um Kyriaki Anastasiadou vom Francis Crick Institute in London berichtet, war es bisher schwierig, chromosomale Anomalien in DNA-Proben zu erkennen, die aus archäologischen Funden stammen. Denn häufig sind die gewonnenen Erbgutspuren stark degradiert. Es handelt sich bei den Geschlechtschromosom-Anomalien allerdings um einen Aspekt, der vor allem im Fall des Klinefelter- und des Turner-Syndroms für die Erforschung einstiger Gesellschaften aufschlussreich sein kann. Dazu schreiben die Autoren: „Die Anomalien können zu Störungen der Geschlechtsentwicklung führen, die sich in gemischten oder uneindeutigen geschlechtsbezogenen körperlichen Merkmalen äußern. Dies kann sich auf die Wahrnehmung des eigenen Geschlechts oder des Geschlechts durch die Gesellschaft auswirken“.

Nachweismethode entwickelt

Deshalb haben die Forschenden ein spezielles Verfahren entwickelt, das die Identifikationsmöglichkeiten von chromosomalen Anomalien erweitert. Dabei wird die Anzahl der Kopien der nicht-geschlechtlichen Chromosomen in einer DNA-Probe erfasst. Daraus ergibt sich dann ein zu erwartender Wert für die Zahl der Geschlechtschromosomen. Zeigt sich ein ungewöhnlich hoher oder niedriger Wert im Fall der genetischen Spuren von X oder Y, ist von einer Anomalie auszugehen. Dieser Ansatz funktioniere auch bei recht stark degradierter DNA, sagen die Forschenden.

Um ihr Verfahren zu testen, wendeten sie es auf einen großen Datensatz an, der im Rahmen des sogenannten „Thousand Ancient British Genomes“-Projekts gesammelt worden war. Die genetischen Informationen stammen dabei von hunderten menschlichen Überresten, die an verschiedenen Orten in Großbritannien gefunden wurden. Die Individuen lebten in verschiedenen Perioden der Vergangenheit – von der frühen Eisenzeit bis in die Neuzeit.

Erfolgreicher Test

Wie die Forschenden berichten, identifizierten sie fünf Personen, deren Geschlechtschromosomen außerhalb der Kategorien XX oder XY lagen. Sie konnten die Ergebnisse dabei auch mit Merkmalen der jeweiligen Skelette vergleichen. Bei einer Person stellte das Team ein Mosaik-Turner-Syndrom fest: Aus den Analysen ging hervor, dass ihr Körper partiell von einem Fehlen des zweiten X-Chromosoms betroffen war, was häufig auftritt. Datiert wurden die Gebeine der Betroffenen auf etwa 500 v. Chr. Den Untersuchungsergebnissen ihrer Skelettüberreste zufolge starb sie im Alter zwischen 18 und 22 Jahren. Dennoch gab es keine Anzeichen einer Pubertät und sie war ungewöhnlich klein. Diese Merkmale passen somit zu den bekannten Symptomen dieser Form der Geschlechtschromosom-Anomalie.

Das Team identifizierte auch drei Individuen mit Klinefelter-Syndrom aus verschiedenen Zeitaltern. Die XXY Kombination spiegelte sich auch bei ihnen in Befunden an den Skeletten wider, berichtet das Team: Es gab Hinweise auf eine ungewöhnliche Entwicklung während der Pubertät und die Personen waren überdurchschnittlich groß. Auch bei dem Individuum, bei dem die Forschenden eine XYY-Anomalie identifizierten, war eine für diese Form typische Statur feststellbar: Der Mann aus dem Frühmittelalter maß stattliche 1,84 Meter.

Wie die Forschenden schreiben, konnten sie bei allen fünf identifizierten Individuen zwar keine Auffälligkeiten bei der Bestattungsweise feststellen, die auf einer speziellen Wahrnehmung oder Behandlung der betreffenden Personen schließen lässt. Doch in anderen Fällen wäre dies ihnen zufolge möglich, woraus sich Potenzial für die Auswertung der stark wachsenden Genomdaten aus der Archäologie ergibt. Dazu sagt Seniorautor Pontus Skoglund vom Francis Crick Institute abschließend: „Die Kombination dieser Daten mit dem Bestattungskontext kann eine historische Perspektive darauf ermöglichen, wie Geschlechtszuordnungen und Vielfalt in früheren Gesellschaften wahrgenommen wurden“, so der Wissenschaftler.

Quelle: The Francis Crick Institute, Communications Biology, doi: 10.1038/s42003-023-05642-z

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